Zweiter Artikel. Alle Tugenden in ein und derselben Person sind verhältnismäßig gleich.
a) Dies scheint nicht. Denn: I. 1. Kor. 7. heißt es: „Ein jeder hat ein eigenes Geschenk von Gott; der eine so der andere so.“ Es wäre aber einem nicht ein Geschenk mehr zu eigen wie das andere, wenn er die eingegossenen Tugenden alle in gleichem Maße besäße. II. Wären alle Tugenden ein und demselben Grade gemäß im einzelnen, so würde folgen, daß, wenn jemand den anderen in einer Tugend überragte, dies in allen übrigen der Fall sein müßte. Das ist aber falsch. Denn verschiedene Heilige werden in einer besonderen Tugend gelobt; so Abraham wegen des Glaubens, Moses wegen der Sanftmut, Job wegen der Geduld. Und die Kirche singt bei jedem Bekenner: „Keiner wurde ihm ähnlich gefunden, daß er im selben Grade das Gesetz des Höchsten beobachtet hätte;“ weil eben jeder eine besondere Tugend in hohem Grade besaß. III. Je tiefer die Tugend ist, desto freudiger arbeitet man danach. Die Erfahrung aber lehrt, daß der nämliche Mensch lieber und freudiger den Akt der einen Tugend thut wie den der anderen. Alle Tugenden sind also nicht gleichmäßig im einzelnen Menschen. Auf der anderen Seite sagt Augustin (6. de Trin. 4.): „Wer gleich ist dem anderen in der Stärke, der ist ihm auch gleich in der Klugheit und Mäßigkeit.“ Dasselbe gilt für alle Tugenden.
b) Ich antworte; gemäß der Gattung ist zweifellos die eine Tugend in ihrer Gattung höher als die andere, wie oben gesagt worden. Wird aber gemäß dem Anteile, den das Subjekt, die Person, welche die Tugend trägt, an der Tugend hat, geurteilt, so sind alle Tugenden in ein und derselben Person gleichmäßig, ein und demselben Grade nach, vorhanden nach einem gewissen Verhältnisse, insoweit alle verhältnismäßig wachsen; wie die Finger der Hand ihrem besonderen Umfange nach verschieden voneinander sind, aber dem Verhältnisse nach gleich sind, da sie je nach ihrem Verhältnisse alle zugleich wachsen. Dafür besteht der nämliche Grund wie für die Verbindung der Tugenden. Denn diese Gleichmäßigkeit ist eine gewisse Verknüpfung der Tugenden gemäß dem Umfange. Nun ist oben gesagt worden, die Tugenden seien alle verbunden entweder, weil die vier Haupttugenden nur vier Hauptvorzüge der Tugend überhaupt sind; und das berührt Augustin mit den Worten (6. de Trin. 4.): „Wenn du sagst, diese da seien gleich in der Stärke, der eine aber rage vor dem anderen durch Klugheit hervor, so folgt, daß die Stärke des anderen minder klug ist; und so sind sie auch nicht in der Stärke gleich, wann die Stärke jenes anderen klüger ist; und so wirst du das Nämliche finden in jeder Tugend, wenn du alle durchnimmst;“ — oder die Tugenden seien verbunden, je nachdem jede ihre bestimmte Materie, ihren bestimmten Wirkungskreis hat. Und danach ist der Grund für die Verbindung der Tugenden auf seiten der Klugheit für die erworbenen, auf seiten der heiligen Liebe für die eingegossenen; nicht aber auf seiten der Hinneigung vom Subjekte aus. So kann also, was das formal bestimmende Element in den Tugenden anbelangt, ihre Gleichmäßigkeit erwogen werden von seiten der Klugheit her. Denn wenn die Vernunft in ein und derselben Person gleichmäßig vollendet ist, so wird auch gemäß dem Verhältnisse nach der rechten Vernunft die Mitte für jede Tugend gebührend bestimmt werden. Was aber das bestimmbare Moment in den Tugenden angeht, nämlich die Hinneigung zum Akte der Tugend, so kann hier, sei es von Natur sei es durch Anlernen etc., Ungleichheit obwalten.
c) I. Das Wort des Apostels kann gelten von den zum Besten anderer (gratia) gegebenen Gaben, die nicht gemeinsam sind allen; und nicht alle gleich in ein und demselben. Oder es kann gelten von der heiligmachenden Gnade, insoweit der eine mehr überfließt von allen Tugenden wie der andere; je nach dem größeren Maße der Klugheit oder der Liebe, worin alle Tugenden verbunden sind. II. Der eine Heilige ist bereitwilliger, also hingeneigter, zur Thätigkeit der einen Tugend wie zu der einer anderen; und anders verhält es sich mit dem anderen Heiligen. III. Ist damit beantwortet.
