Zweiter Artikel. Es giebt in uns ein Naturgesetz.
a) Dagegen spricht: I. Der Mensch wird genügenderweise vom ewigen Gesetze geleitet. „Denn das ewige Gesetz ist jenes, wodurch es gerecht ist, daß Alles was geschieht in höchster Ordnung sich vollzieht,“ sagt Augustin, (l. de lib. arb. 6.) II. Das Gesetz ordnet das menschliche Wirken zum Zwecke hin. Die Hinordnung des menschlichen Wirkens aber zum Zwecke hin ist nicht von Natur wie bei den vernunftlosen Wesen; vielmehr ist der Mensch zum Zwecke hingeordnet durch Vernunft und freien Willen. Also giebt es für ihn kein Naturgesetz. III. Je mehr jemand frei ist, desto weniger ist er unter dem Gesetze. Der Mensch ist aber wegen seiner Willensfreiheit freier wie alle sinnbegabten Wesen, die doch dem Naturgesetze nicht unterworfen sind. Also. Auf der anderen Seite sagt die Glosse zu Röm. 2. Ccum Gentes: „Haben sie kein geschriebenes Gesetz, so haben sie doch ein natürliches, kraft dessen jeder erkennt und weiß, was gut ist und was schlecht.“
b) Ich antworte, das Gesetz sei als Regel und Maßstab im Regelnden und im Geregelten; denn soweit etwas Anteil hat an der Regel, wird es geregelt und gemessen. Da nun Alles, was der göttlichen Fürsehung unterliegt, geregelt wird vom göttlichen Gesetze, so nimmt Alles, je nachdem, teil am göttlichen Gesetze; insoweit nämlich jedem Dinge vom göttlichen Gesetze aus als der Richtschnur eingeprägt ist die Hinneigung zu der je entsprechenden Thätigkeit und dem eigenen Zwecke. Unter den übrigen Kreaturen unterliegt aber die vernünftige in mehr hervorragender Weise der göttlichen Fürsehung; denn sie wird in der Weise teilhaft der göttlichen Fürsehung, daß sie für sich und für andere Wesen vorsorgt. Also auch von ihr aus wird teilgenommen am göttlichen Gesetze, insoweit sie die gebührende Hinneigung von Natur in sich hat sowohl zur geeigneten Thätigkeit als auch zum dementsprechenden Zwecke. Und eine solche Teilnahme am ewigen Gesetze nennt man das Naturgesetz. Nachdem deshalb der Psalmist gesagt hatte Ps. 4.: „Bringet dar das Opfer der Gerechtigkeit,“ fügt er hinzu, als ob einzelne fragten, was denn das für Werke der Gerechtigkeit seien: „Viele sagen: Wer soll uns das Gute zeigen“ und antwortet: „Gesiegelt ist das Licht Deines Antlitzes über uns, o Herr.“ Damit drückt er aus das natürliche Licht der Vernunft, wodurch wir unterscheiden das Gute vom Bösen im einzelnen Falle und wodurch wir somit das dem natürlichen Gesetze Entsprechende erkennen; und er zeigt demgemäß, es sei dieses natürliche Licht nichts Anderes, wie die Einprägung des göttlichen Lichtes in uns. Also ist das natürliche Gesetz offenbar nichts Anderes, wie die Teilnahme am göttlichen Gesetze in der vernünftigen Natur.
c) I. Das natürliche Gesetz ist nur eine Anteilnahme am ewigen Gesetze, nichts diesem Fremdes. II. Alle Thätigkeit der Vernunft und des freien Willens in uns leitet sich immer von dem ab, was in uns der Natur entspricht. (Kap. 10, Art. 1.) Denn aller Beweis wird abgeleitet von den allgemeinen Grundprincipien, die kraft der Natur bekannt sind; und alles Begehren nach dem Zweckdienlichen von dem natürlichen Begehren nach dem letzten Endzwecke Die erste, an der Spitze stehende Leitung also unserer gesamten Thätigkeiten vollzieht sich, soweit diese Thätigkeiten auf den Zweck gerichtet sind, kraft des Naturgesetzes. III. In der ihr eigenen Weise nimmt auch die vernunftlose Natur am ewigen Gesetze teil, wie die vernünftige in der ihrigen. Weil aber die letztere daran teilnimmt durch das vernünftige Erkennen und Schließen, so wird solche Teilnahme an der ewigen Vernunft auch wieder im eigentlichen Sinne „Gesetz“ genannt. Denn „Gesetz“ will besagen etwas zur Vernunft Gehöriges.
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