Dritter Artikel. Es giebt ein menschliches Gesetz.
a) Das scheint überflüssig. Denn: I. Die Teilnahme am ewigen Gesetze vollzieht sich bereits gemäß dem Naturgesetze. „Durch das ewige Gesetz aber ist Alles im höchsten Grade gut geordnet.“ Also. II. Das Gesetz hat den Charakter einer Regel. Die menschliche Vernunft aber ist nicht das Maß und die Regel der Dinge; sondern vielmehr umgekehrt. Also kann aus der menschlichen Vernunft keine Regel kommen. III. Jedes Maß muß im höchsten Grade zuverlässig sein. Das ist aber nicht die Vorschrift der Vernunft, nach Sap. 9.: „Die Gedanken der Menschen sind voll Furcht und ungewiß ist unsere Voraussicht.“ Auf der anderen Seite nimmt Augustin (1. de lib. arb. 6.) zwei Gesetze an: ein ewiges und ein zeitliches, das er als ein menschliches bezeichnet.
b) Ich antworte, das Gesetz sei eine gewisse Vorschrift der praktisch thätigen Vernunft. Wie aber in der rein beschaulichen Vernunft von den kraft der Natur erkannten unbeweisbaren Principien hervorgehen Schlußfolgerungen in den verschiedenen Wissenschaften, deren Kenntnis nicht kraft der Natur gegeben ist, sondern mit vieler Mühe von der Vernunft gefunden; so ist es erforderlich, daß aus den Vorschriften des natürlichen Gesetzes, wie aus unbeweisbaren gemeinsamen Principien die menschliche Vernunft entwickle Einzelnes, was mehr für besondere Fälle paßt; und diese auf das Besondere angepaßte Verfügungen, welche die menschliche Vernunft erfindet, werden „menschliche Gesetze“ genannt. Deshalb sagt Cicero (Rhet. lib. 2. de inv.): „Der Anfang des Rechtes geht von der Natur aus; dann kam Manches in Gewohnheit auf Grund des Nutzens; und nachher hat die von der Natur ausgegangenen und durch die Gewohnheit bestätigten Dinge die Scheu vor der Heiligkeit der Gesetze bekräftigt.“
c) I. Die menschliche Vernunft nimmt nach ihrer Weise und unvollkommen teil an der Vorschrift der göttlichen Vernunft. Und wie deshalb von seiten der beschaulichen Vernunft kraft der naturgemäßen Teilnahme an der göttlichen Weisheit uns innewohnt die Kenntnis gewisser allgemeiner Grundsätze, nicht aber die einer jeden Wahrheit eigens entsprechende Kenntnis; so nimmt kraft der Natur von seiten der praktischen Vernunft der Mensch teil am ewigen Gesetze gemäß gewissen allgemeinen Grundsätzen; nicht aber nach den besonderen Vorschriften für alle einzelnen Fälle, wie solche am Ende immer im ewigen Gesetze d. h. in Gottes Fürsehung enthalten sind. Und deshalb muß die menschliche Vernunft weiter vorgehen zu besonderen Gesetzen für besondere vorkommende Fälle. II. Nicht an sich, aber mit Rücksicht auf die der menschlichen Vernunft von Natur innewohnenden allgemeinen Principien, ist dieselbe Regel für die Wirksamkeit des Menschen; obgleich sie nicht Regel und Maßstab ist für das, was von der Natur kommt. III. Die Vernunft, in dieser Weise aufgefaßt, beschäftigt sich mit besonderen Einzelheiten; nicht aber mit dem Notwendigen, wie die beschauliche oder spekulative Vernunft. Und deshalb können die menschlichen Gesetze nicht jene Zuverlässigkeit haben, die den beweisenden Schlüssen der reinen Wissenschaft zukommt. Jegliches Maß ist eben in der Weise sicher, wie es seine besondere Art mit sich bringt.
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