Sechster Artikel. Wer dem Gesetze unterliegt, kann manchmal von dem Wortlaute desselben absehen.
a) Dagegen scheint zu sein: I. Augustin (de vera Rel. 31.): „Bei den zeitlichen Gesetzen urteilen wohl die Menschen über sie, wenn sie dieselben aufstellen; sind sie aber einmal formuliert und in Geltung, so darf man nur gemäß ihnen urteilen, nicht über sie.“ Wer aber vom Wortlaute absieht und dabei meint, der Absicht des Gesetzgebers zu genügen, scheint über die Gesetze zu urteilen. II. Jener hat das Gesetz zu erklären, der es gegründet hat. Denen aber, die dem Gesetze unterworfen sind, steht es nicht frei Gesetze zu machen; also auch nicht, sie zu erklären. III. Jeder, der Weise ist, muß verstehen seine Absicht auszudrücken. Die aber Gesetze aufstellen, müssen zu den Weisen gerechnet werden, nach Prov. 8.: „Durch mich (die Weisheit) herrschen und entscheiden Rechtes, die da Gesetze gründen.“ Also muß man dem vom Gesetzgeber herrührenden Wortlaute folgen. Auf der anderen Seite sagt Hilarius (4. de Trin.): „Das Verständnis dessen, was gesprochen worden, muß den Ursachen her entnommen werden, die das Sprechen veranlaßten; denn nicht muß die Thatsächlichkeit unterworfen sein dem Worte, sondern das Wort muß dienen der thatsächlichen Sachlage.“ Also muß man mehr acht haben auf die den Gesetzgeber bestimmende Ursache wie auf den Wortlaut.
b) Ich antworte, das Gesetz habe insoweit Kraft und Geltung als es dem allgemeinen Besten dient. Deshalb sagt der Gesetzesgelehrte (lib. 1. ff. tit. 3. de Ieg. et senat.): „Kein Rechtsgrund und kein berechtigtes Wohlwollen giebt dies zu, daß das, was zum Besten der Menschen heilsam eingerichtet worden, von uns durch eine strenge und harte Erklärung zum Nachteile der Menschen verkehrt werde.“ Vielfach aber kommt es vor, daß dasjenige, was in den meisten Fällen dem Gemeinbesten dienlich ist, in wenigen einzelnen Fällen höchst gefährlich erscheint. Weil also der Gesetzgeber nicht alle einzelnen Fälle vor sich haben kann, macht er das Gesetz nach dem gewöhnlich Vorkommenden und beabsichtigt dabei den gemeinen Nutzen. Trifft sonach der Fall ein, daß ein solches Gesetz dem Gemeinbesten schädlich wird, so ist es nicht zu beobachten. So wird z. B. in einer belagerten Stadt das Gesetz aufgestellt, die Thore müßten geschlossen sein. Kommt es nun vor, daß die Feinde einige Bürger verfolgen, durch die in erster Linie die Stadt verteidigt wird, so wäre es verderblich für die ganze Stadt, wenn man solchen Bürgern die Thore nicht öffnete. Das Gesetz also hatte zum Zwecke das Gemeinbeste; und daß man im einzelnen Falle seinem Wortlaute nicht folgt, hat wieder zum Zwecke das Gemeinbeste. Dies gilt freilich bloß, wenn es sich um einen plötzlich eintretenden Fall handelt, wo es unmöglich ist, die Obrigkeit um Rat zu fragen. Sonst gehört es nicht einem jeden zu, das Gesetz zu erklären, sondern dem Regierenden, der vom Gesetze im gegebenen Falle dispensieren kann. Ist Notwendigkeit vorhanden, wie im beschriebenen Falle, so heißt es: Not kennt kein Gebot.
c) I. Wer im Falle der Not gegen den Wortlaut des Gesetzes handelt, urteilt nicht über das Gesetz, sondern über den einzelnen Fall, in welchem er glaubt, das Gesetz verfehle seinen Zweck, das Gemeinbeste. II. Wer da der Absicht des Gesetzgebers folgt, der erklärt nicht das Gesetz schlechthin, sondern in einem besonderen Falle, wo offenbar wegen des einbrechenden Schadens der Gesetzgeber etwas Anderes beabsichtigt hatte. Im Zweifel muß man dem Wortlaute folgen oder den Oberen um Erklärung angehen. III. Kein Mensch ist so weise, daß er alle einzelnen Fälle vorhersehen kann. Und könnte er alle voraussehen, so dürfte er nicht alle im Gesetze ausdrücken, damit er die Verwirrung vermeide. Für das, was gewöhnlich geschieht, sorgt das Gesetz vor.
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