Erster Artikel. Das Übel ist der Beweggrund für die Barmherzigkeit.
a) Das scheint nicht. Denn: I. Die Schuld ist mehr ein Übel wie die Strafe. Sie ladet aber nicht zur Barmherzigkeit ein. II. Grausamkeiten oder Härten sind gewissermaßen übermäßig vom Übel. „Solches treibt aber vielmehr die Barmherzigkeit aus;“ sagt Aristoteles. (2 Rhet. 8.) Also nicht das Übel an sich reizt an zur Barmherzigkeit. III. Anzeichen von Übeln sind thatsächlich keine Übel. Was aber zur Barmherzigkeit antreibt, das sind zumeist Anzeichen vom Übel. Also ist das Übel an sich kein Reizmittel für die Barmherzigkeit. Auf der anderen Seite ist die Barmherzigkeit eine Art Trauer, nach Damascenus 2. de orth. fide 14. Zur Trauer aber bestimmt das Übel.
b) Ich antworte nach Augustin (9. de civ. Dei 5.): „Die Barmherzigkeit sei in unserem Herzen das Mitleid mit der Armut oder dem Elende, welches dazu antreibt, beizustehen.“ Barmherzigkeit nämlich besagt „ein Herz haben mit dem armen.“ Da nun das Elend der Glückseligkeit entgegensteht und „selig ist, wer da hat, was er will“ (Aug. 13. de Trin. 5.), so ist Elend dann vorhanden, wenn der Mensch leidet, was er nicht will. Nun will jemand etwas kraft der natürlichen Hinneigung wie Sein und Leben; — dann aus freier Wahl; — schließlich wegen dessen, was daraus folgt als aus der Ursache, wie wer Schädliches ißt, krank werden will. Den Beweggrund zur Barmherzigkeit also bilden: 1. die natürlichen Übel, wonach Aristoteles sagt (2 Rhet. 8.): „Die Barmherzigkeit ist eine gewisse Trauer auf Grund eines nach außen hervortretenden Übels, welches Pein und Qual verursacht;“ — 2. diese selben Übel, insoweit sie gegen die freie Wahl sind; und danach sagt Aristoteles „jene Übel seien mitleiderweckend, welche vom Zufalle stammen,“ wenn nämlich jemand von seinem frei gewollten Unternehmen Glück erhoffte und es ist Unglück gefolgt; 3. insoweit diese Übel gegen den ganzen Willen entgegentreten, wenn z. B. jemand immer Gutes gethan hat und es folgt für ihn nur Schlimmes; daher sagt Aristoteles: „Die Barmherzigkeit erstreckt sich im höchsten Grade auf die Übel, die jemand unwillig trägt.“
c) I. Die Schuld ist freiwillig; und danach ist sie nicht bemitleidenswert. Weil sie aber gewissermaßen auch Strafe ist, denn sie schließt etwas in sich ein, was gegen den Willen des Schuldigen ist; deshalb haben wir Mitleid mit den Sündern. Deshalb sagt Gregor (hom. 34. in EvgI.): “Die wahre Gerechtigkeit hat gegenüber den Sündern keinen Unwillen, sondern Mitleid;“ und Matth. 9. heißt es: „Und da Jesus die Volksscharen sah, wie sie in Pein waren und auf dem Erdboden liegend wie Schafe ohne Hirten, erbarmte er sich ihrer.“ II. Die Barmherzigkeit bezieht sich eigentlich immer auf den anderen und nur nach einer gewissen Ähnlichkeit aus sich selbst; ebenso wie die Gerechtigkeit sich auf die eigene Person beziehen kann, insofern der Mensch verschiedene Vermögen hat. Und danach heißt es Ekkli. 30.: „Erbarme dich deiner Seele und sei Gott wohlgefällig.“ Wie also rücksichtlich unsrer selbst eigentlich keine Barmherzigkeit besteht, sondern dies Schmerz genannt wird, wenn wir etwas Peinvolles leiden; so erstreckt sich auch die Barmherzigkeit nicht auf die uns durch Verwandtschaft oder ähnlich verbundenen Personen wie auf Kinder, Eltern, insofern diese etwas an unserem Selbst sind; da haben wir viel mehr Schmerz, wie bei eigenen Wunden: „Das Peinvolle ist die Entfernung der Barmherzigkeit“ heißt es deshalb bei Aristoteles. III. Wie aus der Hoffnung und der Erinnerung an Gutes Freude, so folgt aus der Hoffnung und der Erinnerung an Böses Trauer; freilich nicht in der gleichen Stärke, wie wenn das Betreffende gegenwärtig wäre. Die Anzeichen des Üblen also, weil sie uns die erbarmenswerten Übel als gegenwärtig hinstellen, regen zur Barmherzigkeit an.
