Zweiter Artikel. Der Mangel ist der maßgebende Grund für das Erbarmen von seiten des barmherzigen.
a) Das Gegenteil wird dargethan: I. Gott ist es eigen, sich zu erbarmen, so daß Ps. 144 gesagt wird: „Seine Erbarmungen sind ausgebreitet über alle seine Werke.“ In Gott aber ist kein Mangel. II. Wäre der Mangel der maßgebende Grund für das Erbarmen, so würden jene, die am meisten mit Mangel behaftet sind, im höchsten Grade barmherzig sein. Dies ist aber falsch, nach Aristoteles (2 Rhet. 8.): „Die ihrem ganzen Sein nach zu Grunde gegangen sind, haben kein Erbarmen.“ III. Schmach aushalten müssen gehört zum Mangel. Aristoteles aber sagt (l. c.): „Die, welche Schmähungen ausgesetzt sind, haben kein Erbarmen.“ Also ist von seiten des erbarmenden der Mangel kein maßgebender Grund für das Erbarmen. Auf der anderen Seite ist die Barmherzigkeit eine gewisse Trauer. Der Mangel aber ist der maßgebende Grund für die Trauer, so daß kranke leichter trauern. (Vgl. Kap. 35, Art. 1 ad II.) Also ist der Mangel auf seiten des barmherzigen der maßgebende Grund für das Erbarmen.
b) Ich antworte, daß die Barmherzigkeit ein Mitleid mit fremdem Elende sei. Aus demselben Grunde also hat jemand Erbarmen, aus dem fremdes Elend ihn schmerzt. Da aber Schmerz oder Trauer auf das eigene Übel sich bezieht, so schmerzt ihn fremdes Übel insoweit als er dasselbe auffaßt wie etwas ihm selbst Zugestoßenes. Dies nun kann in doppelter Weise der Fall sein: 1. gemäß der Einheit in der Hinneigung, welche durch die Liebe hergestellt wird. Denn weil der liebende seinen Freund wie ein anderes Selbst betrachtet, erachtet er dessen Übel als ob es ihm selbst zugestoßen wäre; und trauert deshalb darüber wie über sein eigenes. Deshalb zählt Aristoteles (9 Ethic. 4.) das Mitleiden mit dem Freunde unter den freundschaftlichen Dingen auf; und Paulus sagt (Röm. 12.): „Freuet euch mit den freudigen, trauert mit den trauernden.“ 2. Gemäß der wirklichen Einigung; wenn nämlich das Üble einzelne uns nahestehende Personen betrifft, so daß dasselbe von diesen bis auf uns übergeht. Deshalb sind Greise und Weise, die da erwägen, sie könnten in ähnliche Übel fallen; und aus dem gleichen Grunde die furchtsamen und kränklichen in höherem Grade barmherzig. Umgekehrt verhält es sich mit den glücklichen, die da bis zu dem Grade mächtig sind, daß sie meinen, es könne ihnen nichts Schlimmes widerfahren. So ist demgemäß immer der Mangel die Ursache für das Erbarmen: entweder insoweit jemand den Mangel in einem anderen als den seinigen ansieht auf Grund der Einheit in der Hinneigung, obgleich er für sich selbst vollkommen ist; oder insoweit jemand die Möglichkeit ansieht, Ähnliches zu leiden.
c) I. Auf Grund seiner Liebe hat Gott Erbarmen; Er betrachtet uns wie etwas, was Ihm gehört. II. Die da bereits inmitten endloser Übel sich befinden, fürchten nicht etwas Weiteres zu leiden; und deshalb haben sie kein Mitleid oder Erbarmen. Ähnlich verhält es sich mit jenen, die in hohem Grade furchtsam sind; denn sie geben so auf ihr eigenes Elend acht, daß sie fremdes gar nicht berücksichtigen. III. Die da unter Schmähungen leiden oder deren bereitwillig anthun, werden zum Zorne und zur Kühnheit angeregt. Dies sind aber männliche Leidenschaften, welche im Menschen die Meinung veranlassen, er werde in Zukunft nicht leiden. Deshalb sind solche nicht in der Verfassung, sich zu erbarmen, nach Prov. 17.: „Der Zorn hat kein Mitleid und ebenso nicht der Wutausbruch.“ Ebenso haben die Stolzen kein Erbarmen; denn sie verachten die anderen und halten dieselben für unvollkommen. Darum sagt Gregor (34. in Evgl.): „Die falsche Gerechtigkeit hat kein Mitleid, sondern Unwillen.“
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