Dritter Artikel. Die Barmherzigkeit ist eine Tugend.
a) Dies scheint nicht. Denn: I. Die Tugend besteht zumal in der freien Wahl (2 Ethic. 4.); und diese setzt vorhergehende Beratschlagung voraus. Was also das Beraten hindert, das ist keine Tugend. Nun sagt Sallust (Catilina in princ. Orat. Caesaris): „Die da über zweifelhafte Dinge sich beratschlagen, müssen von Zorn und Mitleid frei sein; sonst sieht der Geist nicht leicht das Wahre.“ II. Die Vergeltung ist lobwert, heißt es 2 Mst. 9. Dieselbe ist aber dem Erbarmen entgegen. Also ist letzteres keine Tugend. III. Das Erbarmen folgt aus der Liebe wie der Friede und die Freude. Dies sind aber keine eigenen besonderen Tugenden. Also ist dies auch nicht die Barmherzigkeit. IV. Die Barmherzigkeit ist keine Tugend in der Vernunft; sie ist keine theologische, denn sie hat Gott nicht zum Gegenstande; und sie ist keine moralische Tugend, denn weder hat sie zum Gegenstande die Thätigkeiten (da sie nicht zur Gerechtigkeit gehört) noch die Leidenschaften, denn sie läßt keine der zwölf Mittelstufen zu, die Aristoteles ansetzt. (2 Ethic. 7.) Auf der anderen Seite sagt Augustin (9. de civ. Dei 5.): „Bei weitem besser und lobwerter und dem menschlichen Empfinden angemessener hat Cicero in der Lobrede auf Cäsar gesprochen, wo er sagt: Keine Tugend ist wunderbarer wie die Barmherzigkeit.“
b) Ich antworte, soweit die Barmherzigkeit nicht die Thätigkeit des sinnlichen Begehrens, also Leidenschaft besagt; sondern die Thätigkeit des vernünftigen Begehrens, sei sie eine Tugend. Denn eine Tugend besteht darin, daß die Seelenthätigkeit durch die Vernunft geregelt wird. Die Thätigkeit des Erbarmens aber kann durch die Vernunft geregelt werden; und gemäß dieser Richtschnur kann dann auch das niedere Begehren geregelt sein. Deshalb sagt Augustin (l. c.): „Diese Seelenthätigkeit (des Erbarmens) dient der Vernunft, wenn in der Weise Barmherzigkeit gewährt wird, daß die Gerechtigkeit gewahrt bleibt; sei es daß dem bedürftigen man giebt oder dem reuigen verzeiht.“ Also ist die Barmherzigkeit eine Tugend.
c) I. Das Wort Sallusts bezieht sich auf die Leidenschaft des Erbarmens, die der Regel der Vernunft entbehrt. II. Da wird ebenfalls von der Leidenschaft gesprochen. Denn so aufgefaßt steht die Vergeltung in einem gewissen Gegensatze zum Erbarmen. Der barmherzige nämlich hat Schmerz über fremdes Leid, insoweit er erachtet, es leide jemand Unwürdiges; und der nach Wiedervergeltung Trachtende freut sich über fremdes Leid, insofern er erachtet, daß einzelne verdientermaßen leiden, und er trauert, wenn es gut geht denen, die dies nicht verdienen. Und Beides ist lobwert und schließlich „aus derselben Seite folgend.“ (l. c.) Der Barmherzigkeit aber als Tugend steht entgegen der Neid. (Vgl. Kap. 36, Art. 3.) III. Friede und Freude fügen nichts hinzu zum Wesenscharakter des Guten, was Gegenstand der heiligen Liebe ist. Die Barmherzigkeit aber fügt einen besonderen Gesichtspunkt hinzu; nämlich das Elend desjenigen, dessen man sich erbarmt. IV. Die Barmherzigkeit als Tugend gehört zu den moralischen Tugenden. Sie hält die Mitte ein zwischen der Wiedervergeltung und dem Mitleide, insofern beide als Leidenschaften aufgefaßt werden. Aristoteles nennt diese Mittelstufe nicht Tugend; weil Beides, auch als Leidenschaft betrachtet, Lob verdient. Insoweit nämlich die Vernunft die Richtschnur der freien Wahl bildet, wird da von Tugend gesprochen.
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