Dritter Artikel. In höherem Grade muß man den nahestehenden, verwandten Personen wohlthun.
a) Dies scheint nicht. Denn: I. Luk. 14. heißt es: „Wenn du ein Gastmahl giebst, so rufe nicht deine Freunde, Brüder und Verwandten.“ II. Der Soldat im Kriege, wo der Beistand am meisten Wert hat, muß vielmehr einem ihm sonst fremden Kameraden helfen, wie einem Verwandten, der sein Feind ist. III. Das Geschuldete kommt eher wie das frei Geschenkte. Eine Schuld aber ist es, jenem wohlzuthun, von dem man Wohlthaten empfangen hat. Also muß man zuerst seinen Wohlthätern Gutes thun und nicht den Verwandten. IV. Mehr sind die Eltern zu lieben wie die Kinder. (Kap. 26, Art. 9.) Wohlthun aber soll man mehr den Kindern; denn „nicht müssen die Kinder für die Eltern Schätze sammeln, sondern umgekehrt.“ (2. Kor. 12.) Also muß man nicht den mehr verwandten Personen mehr Gutes thun. Auf der anderen Seite sagt Augustin (1. de doctr. christ. 28.): „Da du nicht allen nützlich sein kannst, so trage hauptsächlich Sorge für jene, welche nach Zeit- und Ortsumständen oder nach sonstigen Verhältnissen mit dir, wie durch ein gemeinsames Los, enger verbunden sind.“
b) Ich antworte, die Gnade und Tugend ahmen die Ordnung der Natur nach, die ja von der göttlichen Weisheit kommt. Da, im Bereiche der Natur, aber ist die Wirksamkeit immer stärker auf das Nahestehende hin; wie das Feuer mehr wärmt das was ihm nahe ist als was selbem fernsteht. Und ähnlich teilt Gott den Ihm näherstehenden Substanzen eher und reichlicher seine Gaben mit. (Dionys. 7. de coel. hier.) Das Wohlthun aber ist eine Thätigkeit der Liebe; also geht es in höherem Grade auf die näherstehenden Personen. Dieses Nahestehen nun wird unter verschiedenen Gesichtspunkten berücksichtigt. Da ist die Blutsverwandtschaft, die Staatsgemeinschaft, der gemeinsame Glaube etc. Nach diesen verschiedenen Graden also der gegenseitigen Verbindung richtet sich je nach dem verschiedenen Gesichtspunkte das Wohlthun; abgesehen davon daß manchmal noch die Zeit- und Ortsumstände in Betracht kommen. Denn im äußersten Notfalle muß man lieber einem fremden zu Hilfe kommen wie dem eigenen Vater, der nicht solche Not leidet.
c) I. Man solle, so meint der Heiland, die Freunde nicht einladen in der Absicht, wieder eingeladen zu werden. Auch kann es manchmal erforderter sein, Fremde einzuladen wie Freunde; wenn sie nämlich dessen mehr bedürfen. Denn alles Dies gilt eben nur, wenn die sonstigen Verhältnisse gleich sind; dann gehen die nahestehenden voran. II. Das Gemeinbeste vieler, sei es das bürgerliche oder das geistige, geht dem besonderen Besten des einzelnen voran, so daß es tugendhaft ist, wenn der einzelne sein Leben aussetzt in einer Gefahr, die dem Gemeinbesten droht. Im Kriege aber handelt es sich um das Gemeinbeste. Da hilft also ein Kamerad dem anderen nicht wie einer Privatperson, sondern er nützt dem Gemeinbesten. Somit steht der fleischliche Verwandte hier zurück. III. Doppelt ist etwas geschuldet: 1. wie geliehen oder wie ein anvertrautes Gut; dies gehört also mehr dem anderen, wie jenem, der es augenblicklich hat. Daraus darf man keinem Gutes thun; außer wenn es sich um einen äußersten Notfall handelt, wo der, dem das Gute gehört, auch so handeln würde und müßte, vorausgesetzt daß der letztere nicht in ähnlicher Not ist, wo dann die Umstände abgewogen werden müssen. 2. Es ist ferner etwas geschuldet; nicht auf Grund strikter Gerechtigkeit, sondern auf Grund einer gewissen moralischen Gleichheit, wie z. B. infolge empfangener Wohlthaten. Da sind nun die Eltern die größten Wohlthäter und somit allen vorzuziehen, wenn es darauf ankommt, wohlzuthun; es müßte denn von anderer Seite her die Not überwiegen oder der gemeinsame Nutzen der Kirche oder des Staates oder sonst andere Verhältnisse. In allen anderen Fällen muß die enrpfangene Wohlthat abgewogen und die Nähe der Verwandtschaft oder sonstigen Nahestehens. Da giebt es keine allgemeine Regel. IV. Die Eltern sind wie Vorgesetzte. Ihnen gebührt es also, für die Kinder zu sorgen; und den Kindern geziemt es, die Eltern zu ehren. Jedoch wäre es, wenn es sich um den äußersten Notfall handelt, mehr erlaubt, die Kinder zu verlassen wie die Eltern, weil diese die größten Wohlthäter sind. (8 Ethic. ult.)
