Vierter Artikel Das scharfe Urteil ist noch eine besondere Tugend.
a) Das scheint nicht. Denn: I. Ein gesundes Urteil hat jener nicht, der nicht über Alles urteilen kann. Wer also die synesis hat, bedarf nicht der gnome, des scharfen Urteils. II. Nur eine Tugend leitet das gute Beraten; nur eine das Vorschreiben; also auch nur eine das Urteilen. III. Was selten geschieht und wo man also von den gewöhnlichen Regeln abweichen soll, ist reiner Zufall. Dafür giebt es aber keinen Grund, der da aus der Natur geschöpft werden könnte. Auf der anderen Seite zählt Aristoteles (6 Ethic 11.) die gnome zu den besonderen Tugenden.
b) Ich antworte, die dem Erkennen dienenden Zustände unterscheiden sich nach den höheren oder niedrigeren Principien; wie die Weisheit z. B. höhere Principien hat, von denen sie ausgeht, als die bloße Wissenschaft und sonach von dieser sich unterscheidet. So verhält es sich auch im Bereiche des Thätigseins. Offenbar nämlich läßt sich das, was nicht im Bereiche der Ordnung einer niederen Ursache enthalten ist, bisweilen zurückführen auf eine höhere Ordnung; wie z. B. die Mißgeburten außerhalb der von der Kraft im betreffenden Samen beherrschten Ordnung sind, jedoch auf eine höhere regelnde Ursache zurückgeführt werden können, sei dies der Bereich der Himmelskörper oder die göttliche Vorsehung; so daß wer nur die Kraft des Samens beachten würde, kein hinreichendes Urteil darüber fällen könnte, wohl aber jener, der die höhere Ursache kennt. Nun muß manchmal etwas geschehen außerhalb der gewöhnlichen Regeln; so z. B. darf man ein anvertrautes Gut den Bekämpfern des Vaterlandes nicht zurückgeben oder dgl. In solchen Fällen ist gemäß höheren Principien zu urteilen, wozu das einfache gesunde Urteil, die synesis, nicht genügt; sondern die gnome, das scharfe Urteil, erfordert ist.
c) I. Nach den gewöhnlichen Regeln urteilt der gesunde Sinn wohl über Alles; aber nicht nach höheren Principien, wenn man dessen bedarf. II. Das Urteil muß man nehmen aus den dem betreffenden Dinge eigens entsprechenden Principien; untersuchen muß man nach den gewöhnlichen, gemeinsamen Regeln; — wie auch die beweisende Wissenschaft aus eigens entsprechenden Gründen den Beweis führt, während die Dialektik nach den gewöhnlichen Regeln untersucht. Also ist nur eine Tugend für das Beraten; nicht aber nur eine für das Urteilen. Denn nicht immer sind die gewöhnlichen Gründe die eigens im besonderen Falle entsprechenden, bisweilen sind da höhere Gründe maßgebend. Das Vorschreiben aber berücksichtigt nur immer den einen Charakter des Guten und somit ist nur eine Klugheit. III. Alles Jenes, was außerhalb des gewöhnlichen Laufes der Dinge vorkommt, zu betrachten, gehört allein der göttlichen Vorsehung an; unter den Menschen aber kann der scharfsinnigere Manches davon mit seiner Vernunft erreichen; und dazu ist die γνώμη da.
