Zweiter Artikel. Der Richter kann urteilen nach den abgegebenen Zeugnissen, auch wenn er als Privatperson das Gegenteil als Wahrheit anerkennt.
a) Dem wird entgegengestellt Folgendes: I. Deut. 17. heißt es: „Du sollst gehen zu den Priestern vom Stamme Levi und zu dem Richter, der für jene Zeit sein wird; und du sollst sie fragen; sie werden dir anzeigen die Wahrheit des Urteils.“ Also darf man nicht gegen die Wahrheit urteilen, welche man weiß; mögen auch falsche Zeugen das Gegenteil aussagen. II. Gott soll der Richter nacheifern. „Gottes Urteil aber ist gemäß der Wahrheit,“ nach Rom. 2.; und Isaias II, 3. sagt: „Nicht nach dem, was die Augen schauen, wird Er urteilen und nicht nach dem, was die Ohren hören, wird Er strafen; in Gerechtigkeit wird Er die armen richten, und strafen in Billigkeit für die sanftmütigen auf Erden.“ Also darf der Richter nicht nach dem, was vor ihm bewiesen wird, urteilen gegen die Wahrheit, die er weiß. III. Wo etwas bereits bekannt ist, wird keine Beweisführung angetreten, nach 1. Tim. 5.: „Die Sünden mancher sind offenbar, sie gehen dem Gerichte vorher.“ Kennt also der Richter bereits die Wahrheit, so hat er nicht nötig, auf die Zeugen acht zu geben, die doch eben nur den Zweck haben, den Richter über die Wahrheit aufzuklären; — sondern er muß sein Urteil fällen nach der Wahrheit. IV. Der Name „Gewissen“ will heißen „gegenwärtiges Wissen“ oder die Anwendung des Wissens auf etwas zu Thuendes. Handeln aber gegen das Gewissen ist Sünde. Also sündigt der Richter, wenn er gemäß den. Zeugen gegen die Wahrheit, die er weiß, urteilt. Auf der anderen Seite schreibt Ambrosius (Ps. 118.): „Ein guter Richter thut nichts aus Willkür, sondern nach den Gesetzen und dem bestehenden Rechte urteilt er.“
b) Ich antworte, als öffentliche Person urteile der Richter, insoweit er Richter ist, nicht als Privatperson. Also darf er nicht nach dem urteilen, was er als Privatperson weiß, sondern nach dem, was ihm als einer öffentlichen Person bekannt wird. Dies nun wird ihm bekannt: 1. im allgemeinen, nämlich durch das öffentliche Recht, sei dies das göttliche oder das menschliche; und dagegen darf er keinerlei Beweisführung zulassen; — 2. im besonderen Falle durch die Zeugen oder andere ähnliche Dokumente; und denen muß er im Urteilen mehr folgen wie seiner Privatkenntnis. Letztere kann ihm höchstens dazu helfen, daß er sorgfältiger die Zeugen prüft. Am Ende aber muß er gemäß dem von diesen Festgestellten sein Urteil fällen.
c) I. Deshalb wird in jener Stelle vorausgeschickt, man solle fragen; weil die Richter entscheiden müssen gemäß dem, was objektiv vorgelegt ist. II. Gott urteilt gemäß eigener Gewalt; und also gemäß der Wahrheit, die Er selber kennt. Dasselbe gilt von Christus, der da wahrer Gott und Mensch ist. Die anderen Richter aber urteilen nicht nach eigener Gewalt, sondern nach der ihnen übertragenen; und somit besteht keine Ähnlichkeit. III. Der Apostel spricht von solchen Vergehen, die allen bekannt sind, die also der schuldige nicht leugnen kann. Sind sie aber bekannt nur dem Richter und nicht den anderen; oder nur den anderen und nicht dem Richter; — so bedarf es der Beweisführung. IV. Was die eigene Person angeht, muß der Mensch dem eigenen Wissen folgen. Was aber die öffentliche Gewalt angeht, so muß er sein Gewissen bilden nach dem, was vor dem öffentlichen Richterstuhle gewußt werden kann.
