Erster Artikel. Der Mensch ist verpflichtet, Zeugnis abzulegen.
a) Das scheint nicht. Denn: I. Augustin bemerkt zu Gen. 12, 13. (soror mea es): „Abraham hal die Wahrheit verborgen, nicht gelogen.“ Die Wahrheit verbergen aber heißt kein Zeugnis geben. Also. II. Niemand ist zu Trug verpflichtet. Prov. 11. aber heißt es: „Wer in Lug und Trug wandelt, enthüllt die Geheimnisse; wer treu ist, verheimlicht das ihm vom Freunde Anvertraute.“ III. Kleriker und Priester sind am meisten gehalten zu dem, was zum Heile notwendig ist. Ihnen aber ist es verboten, Zeugnis abzulegen, wenn es sich in einem Prozesse um das Leben handelt. Also gehört Zeugnis ablegen nicht zu dem zum Heile Notwendigen. Auf der anderen Seite schreibt Augustin: „Wer die Wahrheit verbirgt und wer eine Lüge sagt, ist gleicherweise schuldig: jener, weil er nicht nützen will; dieser, weil er danach verlangt zu schaden.“
b) Ich antworte, daß bisweilen das Zeugnis jemandes erfordert wird und bisweilen nicht. Wird das Zeugnis gefordert von der gesetzmäßigen Autorität, so muß man derselben innerhalb des Bereiches ihrer Gerichtsbarkeit folgen in dem, wo Zeugnis abverlangt werden kann; also z. B. in dem, was offenbar ist und wo schon ein gewisses Gerücht vorausgegangen, handelt es sich um Geheimes und wo noch kein Gerücht vorausgegangen, so ist man nicht verpflichtet, Zeugnis abzulegen. Wird das Zeugnis aber von der vorgesetzten Behörde nicht gefordert, so ist der betreffende trotzdem dazu verpflichtet, wenn es gilt, einen Menschen vom ungerechten Tode zu befreien oder von einem ungerechten Nachteile oder von unverdienter Ehrlosigkeit. Er muß dann thun, was an ihm liegt, damit er sein Zeugnis anbringen kann. Denn Ps. 81. sagt: „Reißet heraus den armen und befreiet den bedürftigen aus der Hand des Sünders;“ und Prov. 24.: „Errette jene, die zum Tode geführt werden;“ und Röm. 1.: Sie sind des Todes schuldig; nicht nur sie, sondern auch jene, welche den Solches thuenden zustimmen,“ wozu Ambrosius bemerkt: „Zustimmen will besagen schweigen, wenn. du das Gegenteil beweisen kannst.“ Soll jedoch jemand verurteilt werden, so ist nur jener gehalten, Zeugnis abzulegen, welcher gemäß der Rechtsordnung dazu vom Oberen herangezogen wird. Denn bleibt hier die Wahrheit verborgen, so entsteht daraus für niemanden ein Schaden; entsteht aber eine Gefahr für den Ankläger, so hat das nichts zu sagen, da er sich aus freien Stücken hineingemischt hat, während dem angeklagten gegen seinen Willen Gefahr droht.
c) I. Augustin spricht von dem Falle, wenn der Obere nicht zum Zeugnisse heranzieht oder wenn das Verbergen der Wahrheit für niemanden schädlich ist. II. Was der Priester in der Beichte hört, davon darf er in keiner Weise ein Zeugnis ablegen. Denn das weiß er nicht als Mensch, sondern als Diener Gottes; und größer ist die Verpflichtung, welche das Sakrament auflegt, wie die der Vorschrift eines beliebigen Menschen. Was der Mensch aber sonst als anvertrautes Geheimnis weiß, das muß er in manchen Fällen sogleich offenbar machen; z. B. wenn dies dem Gemeinwesen zum zeitlichen oder geistigen Verderben gereicht oder einen schweren Schaden für eine einzelne Person einschließt oder wenn er sonst genötigt ist, davon Zeugnis zu geben oder es anzuzeigen; gegen diese Pflicht kann er nicht anderswoher, nämlich durch ein anvertrautes Geheimnis gebunden werden, da er dadurch die Treue brechen würde, welche er dem anderen schuldet. Bisweilen jedoch betrifft ein solches Geheimnis Dinge, die der betreffende offenbar zu machen nicht gehalten ist; und in solchen Dingen kann er durch das anvertraute Geheimnis gebunden werden, so daß er davon nichts mitteilen darf, auch nicht, wenn der Obere es befiehlt. Denn die Treue zu bewahren gehört zum Naturrecht; und dem Menschen kann nichts vorgeschrieben werden gegen das Naturrecht. III. Positiv beizutragen zur Tötung eines Menschen, kommt den Dienern des Altares nicht zu.
