Erster Artikel. Der Advokat ist nicht immer verpflichtet, die Sache der armen zu führen.
a) Dies scheint aber der Fall zu sein. Denn: I. Exod. 23. heißt es: „Wenn du den Esel dessen, der dich haßt, unter seiner Last liegen siehst, sollst du nicht vorübergehen, sondern helfen.“ Um so mehr aber ist dem armen beizuspringen, der da von der Ungerechtigkeit erdrückt werden soll. II. Gregor sagt (hom. 9. iu Evgl.): „Der Verständnis hat, soll nicht schweigen; der Überfluß hat, soll barmherzig sein; der die Kunst hat, sich zu leiten, soll sie mit dem Nächsten teilen; der bei reichen vorsprechen soll für die armen Fürbitte einlegen; sein Talent soll jeder gebrauchen, so gering es ist.“ Demgemäß soll mit seinem Talente der Advokat dem armen helfen. III. Das Gebot, barmherzig zu sein, verpflichtet als affirmatives für gewisse Zeit- und Ortsverhältnisse; zumal für den Fall der Not. Ein solcher tritt aber ein, wenn der arme ungerechterweise bedrückt wird. Also muß der Advokat ihm helfen. Auf der anderen Seite bedarf der arme ebensogut der Speise wie eines Advokaten. Wer aber das Vermögen hat, den armen zu speisen, ist nicht immer, in jedem einzelnen Falle, dazu gehalten. Also gilt dies ch für den Advokaten.
b) Ich antworte, im genannten Falle gelte, was oben über die Werke der Barmherzigkeit gesagt worden. Keiner reicht dazu hin, um allen bedürftigen Barmherzigkeit zu erweisen. Deshalb sagt Augustin (I. de doctr. christ. 28.): „Da du nicht allen nützlich sein kannst, so mußt du jenen mal helfen, welche nach Zeit-, Ort- und sonstigen Verhältnissen mit dir wie durch ein Schicksalslos enger verbunden sind.“ Er spricht vom Orte“; denn der Mensch braucht nicht in der Welt herumzulaufen, um zu suchen, denen er helfen könne; sondern es genügt, wenn er jenen hilft, die ihm eben entgegentreten; vgl. Exod. 23, 4.: „Triffst du den Ochsen oder den Esel deines Feindes, der sich verirrt hat, so führe ihn zurück.“ Dann spricht Augustin von der „Zeit“. Denn der Mensch braucht nichtden zukünftigen Bedürfnissen vorzubeugen, sondern in den gegenwärtig vorliegenden soll er helfen. Deshalb sagt Johannes (1. 3, 17.): „Wer seinen Bruder notleiden sieht und sein Herz vor ihm verschließt; wie kann in diesem die Liebe Gottes bleiben.“ „Sonstige“ Verhältnisse erwähnt Augustin, weil man verwandten und ähnlichen nahestehenden Personen in erster Linie seine Sorge angedeihen lassen muß, nach 1. Tim. 5.: „Wer für die Seinigen und zumal für die Familienangehörigen nicht Sorge trägt, hat den Glauben geleugnet.“ Kommen nun diese Umstände zusammen, so muß man ferner erwägen, ob jemand bis zu dem Grade notleidet, daß es gar nicht erscheint, wie ihm von anderer Seite her beigestanden werden kann; und in solchem Falle ist es Pflicht, ihm Barmherzigkeit angedeihen zu lassen. Erscheint es aber, wie ihm von anderer Seite her beigestanden werden kann, entweder mit seinen eigenen Kräften (indem man ihm Arbeit verschafft) oder von seiten verwandter oder nahestehender Personen oder die mehr Vermögen haben; so sündigt man nicht, wenn man ihm nicht hilft; man thut aber, indem man ihm hilft, ein lobenswertes Werk. Nur also wenn die erwähnten Umstände zusammenkommen, ist der Advokat gehalten, mit seinem Talente dem armen zu helfen; sonst würde er seine anderen Geschäfte darangeben müssen, nur um die Sache der armen zu führen. Und dasselbe gilt vom Arzte in seinem Fache.
c) I. In diesem Falle kann dem Esel nicht anders geholfen werden als durch die vorübergehenden. II. Unter den gebührenden Umständen von Ort und Zeit etc. ist der Mensch gehalten, sein Talent zu verwerten. III. Nicht jeder Notfall begründet eine Verpflichtung zu helfen; vgl. oben.
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