Erster Artikel. Gott versuchen heißt etwas thun, wobei die Wirkung von Gottes Macht allein hervortreten soll.
a) Das ist nicht Gott versuchen. Denn: I. Wie Gott vom Menschen versucht wird, so versucht Gott Menschen und ebenso thut es der Teufel und ein anderer Mensch. Nicht aber immer, wenn der Mensch versucht wird, erwartet man von ihm eine Wirkung seiner Macht. Also ist das auch nicht der Fall, wenn der Mensch Gott versucht. II. Wer kraft der Anrufung des Namens Gottes Wunder wirkt, erwartet eine Offenbarung der göttlichen Macht allein. Also würden alle Heiligen, die Wunder wirkten, damit Gott versucht haben, wenn die angegebene Definition richtig wäre. III. Dies gehört zur Vollkommenheit des Menschen, daß er mit Beiseitelassung alles Übrigen auf Gott allein seine Hoffnung setzt. Deshalb sagt Ambrosius (zu Luk. 9. nihil tuleritis in via): „Wie jener beschaffen sein muß, der Gottes Reich verkündigt, ist in den Vorschriften des Evangeliums enthalten; d. i. er soll weltliche, zeitliche Hilfe nicht erfordern, sondern fest im Glauben überzeugt sein, er werde um so mehr wirken, je weniger er zeitliche Hilfsmittel hat.“ Und die heilige Agatha sagte: „Ich habe nie ein körperliches Heilmittel für meinen Körper gebraucht; ich habe vielmehr unseren Herrn Jesum Christum, der mit einem einzigen Wort Alles wiederherstellt.“ Auf der anderen Seite sagt Augustin (22. contr. Faust. 36.): „Christus, der durch sein öffentliches Lehren und Ermahnen und dadurch daß Er nicht zuließ, daß die rasende Wut der Feinde Ihm etwas angehabt hätte, die göttliche Macht zeigte, that ebenso, indem Er floh und sich verbarg, die menschliche Schwäche dar; damit niemand Gott zu versuchen vermesse, wenn er weiß das was in seinen Kräften steht zu thun, damit er seinen Feinden ausweiche.“ Also besteht darin die Sünde Gott zu versuchen, daß der Mensch zu thun unterläßt, was in seinen Kräften steht, damit er der Gefahr entgehe, meinend, Gott unmittelbar werde ihm helfen.
b) Ich antworte, „versuchen“ will eigentlich heißen: einen Versuch anstellen mit dem betreffenden, der versucht wird. Wir stellen aber mit jemandem einen Versuch an entweder mündlich oder thatsächlich: Mündlich ob er wisse, was wir von ihm erwarten oder ob er könne und wolle das thun, was wir von ihm verlangen; — thatsächlich, wenn wir durch das. was wir thun, eines anderen Klugheit oder Macht oder seinen Willen auf die Probe stellen. Jedes von Beiden nun geschieht in doppelter Weise: einmal offen, wie wenn jemand sich als den vorstellt, der den anderen versuchen, d. h. erproben will, wie Samson (Richt. 14.) den Philistern ein Rätsel aufgab, um sie zu erproben; dann heimlich und hinterlistig, wie die Pharisäer den Herrn versuchten. Und wiederum geschieht dieses „Versuchen“ oder Erproben entweder ausdrücklich; wenn nämlich jemand die Absicht hat, den anderen zu erproben; — oder interpretativerweise; wenn jemand etwas thut oder spricht, was an sich keinen anderen Zweck zu haben scheint, als damit der andere erprobt werde. So nun versucht der Mensch Gott manchmal mit Worten, manchmal thatsächlich. In Worten verhandeln wir mit Gott im Gebete. In seinem Gebete also versucht der Mensch Gott, wenn er Gott um etwas ansteht in der Absicht, daß er Gottes Macht, Wissen, Wollen erforsche. Durch seine Thaten versucht der Mensch Gott in ausdrücklicher Weise, wenn er durch das, was er thut, beabsichtigt, eine Probe zu haben von Gottes Macht, Wissen, Wollen. In interpretativer Weise versucht der Mensch Gott, wenn er zwar nicht die Absicht hat, Gottes Macht etc. zu erproben; wenn aber das, was er thut oder erfleht, zu nichts Anderem nützlich ist, wie um zu erproben, was Gott kann, weiß oder will. So will das nicht heißen: ein Pferd erproben, wenn man es zum Laufen antreibt, damit man den Feinden entfliehe. Aber wenn man es ohne irgend welchen Nutzen zum Laufen antreibt, das würde heißen: es erproben, ob es gut laufen kann. Und so verhält es sich in allen Dingen. Wenn somit jemand von einem Nutzen oder einer Notwendigkeit getrieben Gottes Beistand erfleht oder durch das, was er thut, herausfordert, so ist es das nicht: Gott versuchen. Denn 2. Paral. 20. heißt es: „Da wir nicht wissen, was wir thun sollen, bleibt uns nur übrig, unsere Augen zu Dir zu wenden.“ Wenn wir aber dies thun ohne irgend einen Nutzen oder ein Bedürfnis, so heißt das interpretativerweise Gott versuchen, wie zu Deut. 6. die Glosse sagt: „Gott versucht wer da wohl weiß, was er thun kann; aber ohne Grund sich der Gefahr überläßt, um zu erproben, ob Gott ihm helfen werde.“
c) I. Der Mensch wird auch bisweilen durch Thaten erprobt oder versucht, ob er könne, wisse oder wolle thatsächlich etwas leisten oder hindern. II. Die Heiligen lassen sich durch Nutzen oder Notwendigkeit dazu bestimmen, Gott anzuflehen, daß Er ein Wunder wirke. III. Infolge eines großen Nutzens oder dringender Notwendigkeit lassen die Prediger des Wortes Gottes die zeitlichen Hilfsmittel beiseite, damit sie Gottes Wort um so bereitwilliger und eindringlicher predigen. Indem sie in dieser Weise sich nur auf Gottes Beistand verlassen, versuchen sie demnach nicht Gott. Wollten sie aber ohne Grund der zeitlichen Hilfsmittel sich begeben, so würden sie Gott versuchen. Deshalb sagt Augustin 22. contr. Faust. 36.): „Paulus ist nicht geflohen, weil er auf Gott nicht baute oder an Ihn nicht glaubte; sondern damit er Gott nicht versuche, da er fliehen konnte und es nicht gewollt hätte.“ Die heilige Agatha aberhatte die göttliche Barmherzigkeit bereits an sich erfahren, daß sie entweder keine Krankheiten hatte, um derentwillen sie körperliche Medizin bedurft hätte oder daß sie alsbald die Wirkung der göttlichen Heilkraft fühlte.
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