Vierter Artikel. Gott versuchen ist keine so schwere Sünde wie der Aberglaube.
a) Das Gegenteil wird behauptet. Denn: I. Die schwerere Strafe kommt der schwereren Sünde zu. Schwerer aber wurden die Juden (Ps. 94.) bestraft, weil sie Gott versuchten: „Es versuchten mich euere Väter…. und ich schwor in meinem Zorne, sie sollen nie eintreten in meine Ruhe;“ sie gingen alle in der Wüste zu Grunde und kamen nicht in das gelobte Land. Für die Sünde des Götzendienstes, also der schwersten Sünde des Unglaubens, gingen aber nur dreiund- zwanzigtausend zu Grunde. (Exod. 82.) Also ist der Aberglaube eine nicht so schwere Sünde wie Gott versuchen. II. Desto schwerer ist eine Sünde, je mehr sie zur betreffenden Tugend im Gegensatze steht. Die Irreligiosität aber, zu der als Gattung die Versuchung Gottes gehört, steht mehr im Gegensatze zur Gottesverehrung oder Religion wie der Aberglaube, der doch eine gewisse Ähnlichkeit mit der Religion hat. Also. III. Eine größere Sünde ist es, gegen die Eltern unehrerbietig zu sein, wie die den Eltern gebührende Ehrfurcht anderen zu erweisen. Gott aber ist unser aller Vater. (Malach. 1.) Also ist es schwerer, Gott gegenüber unehrerbietig zu sein, als die Gott gebührende Ehre einem Geschöpfe darzubringen. Auf der anderen Seite sagt die Glosse zu Deut. 17. (cum reperti fuerunt): „Das Gesetz verabscheut im höchsten Grade den Irrtum und den Götzendienst; das größte Verbrechen aber ist es, die dem Schöpfer gebührende Ehre dem Geschöpfe darzubringen.“
b) Ich antworte, unter den Sünden gegen die Religion sei jene um so schwerer, die mehr zu der Gott geschuldeten Ehrfurcht im Gegensatze steht. Derselben steht aber in minderem Grade jener gegenüber, der am göttlichen Vorrange zweifelt, als jener, der denselben mit Sicherheit leugnet. Denn wie in höherem Grade ungläubig ist, der an seinem Irrtume hartnäckig festhält, als derjenige, welcher an der Wahrheit des Glaubens zweifelt; so versündigt sich in höherem Grade gegen die Gott geschuldete Ehrfurcht, der durch seine That das Gegenteil bekennt, als jener, der durch seine That nur seinen Zweifel darthut. Der Aberglaube nun ist ein Bekenntnis des hartnäckig festgehaltenen Irrtums; Gott versuchen bekennt nur den Zweifel am göttlichen Vorrange. Also ist Aberglaube eine schwerere Sünde.
c) I. Jene Strafe für den Götzendienst war nicht die hinreichende. Exod. 32. wird noch hinzugefügt: „Ich werde am Tage meines Zornes diese ihre Sünde heimsuchen.“ II. Der rein materiale Akt im Aberglauben ist ähnlich dem der Religion; in beiden nämlich wird etwas als Gott verehrt. Mit Rücksicht auf den Zweck aber steht der Aberglaube mehr im Gegensatze zur Tugend der Religion; denn mehr ermangelt er der Ehrfurcht vor Gott, wie „Gott versuchen“. III. Zum Wesen des göttlichen Vorranges gehört, daß derselbe einzig dastehe und unmitteilbar. Also ist es ganz das Nämliche: gegen die Ehrfurcht vor Gott sündigen; und: die Gott allein geschuldete Ehre einem anderen entbieten. Die den Eltern geschuldete Ehre aber kann ohne Schuld anderen mitgeteilt werden.
