Erster Artikel. Zum Wesen des Meineides gehört, daß Falsches im Eide behauptet und bekräftigt worden sei.
a) Dem steht entgegen: I. Wie die Wahrheit, so muß auch das vorsichtige Urteil und die Gerechtigkeit den Eid begleiten. Also ebensogut wie der Mangel an Wahrheit gehört auch der Mangel an den beiden anderen Begleitern zum Wesen des Meineides, wenn nämlich jemand unvorsichtig oder Ungerechtes schwört. II. Wodurch etwas bekräftigt wird, das steht höher wie das, was bekräftigt wird; wie in einer Schlußfolgerung die leitenden Principien an Wert höher stehen als das Gefolgerte. Nun wird im Eide die Aussage eines Menschen gekräftigt durch die Anrufung des Namens Gottes. Also scheint es in höherem Grade Meineid zu sein, wenn jemand bei falschen Göttern schwört. III. Serm. 28. de verb. ap. Jacobi sagt Augustin: „Die Menschen schwören falsch entweder wenn sie täuschen oder getäuscht werden;“ und er giebt drei Beispiele: „Das Erste ist, daß jemand denkt, es sei wahr, wofür er schwört, und es ist doch falsch; das Zweite, daß jemand weiß, es sei falsch und er schwört, als ob es wahr wäre; das Dritte, daß jemand meint, es sei falsch und er schwört, als ob es wahr wäre, während es vielleicht objektiv wahr ist.“ Und diesen nennt er ebenfalls meineidig. Also kann jemand meineidig sein und doch die Wahrheit sagen. Auf der anderen Seite „ist Meineid eine durch einen Eid bekräftigte Lüge.“
b) Ich antworte, die moralischen Akte erlangen ihren Wesenscharakter vom Zwecke aus. Der Zweck des Eides nun ist die Bekräftigung einer menschlichen Aussage. Dieser Bekräftigung aber steht direkt das Falsche gegenüber; denn dadurch wird eine Aussage gekräftigt, daß man zeigt, sie sei unverrückbar wahr, was natürlich nicht geschehen kann bei etwas, was da falsch ist. Also macht das Falsche unmittelbar und durchaus wesentlich den Eid zwecklos; und sonach wird vom Falschen der Wesenscharakter des Meineides hergenommen.
c) I. Nach Hieronymus (Jer. 4.) ist Meineid vorhanden an erster leitender Stelle, wenn die Wahrheit fehlt; an zweiter untergeordneter Stelle, wenn die Gerechtigkeit fehlt; denn wer Unerlaubtes schwört, der schwört folgegemäß Falsches, da er verpflichtet ist, das Gegenteil von dem zu thun, was er geschworen hat; — an dritter Stelle, wenn das umsichtige Urteil fehlt, denn wer bei jeder Gelegenheit schwört, setzt sich der Gefahr aus, falsch zu schwören. II. Die Principien in den Syllogismen stehen höher an Wert wie das Gefolgerte, weil sie den Charakter wirksam thätiger Principien haben. Im Moralischen aber ist der Zweck hauptsächlicher wie das wirksam thätige Princip. Obgleich sonach es ein verkehrter Eid ist, wenn jemand bei falschen Göttern schwört; so kommt doch der Wesenscharakter des Meineides präcis vom Falschen, weil dies den Eid zwecklos macht. III. Die moralischen Akte gehen vom Willen aus, dessen wesentlicher Gegenstand das Gute als aufgefaßtes ist. Wird also das an sich Falsche als wahr aufgefaßt; so ist das material, d. h. an sich für den Willen etwas Falsches; aber formal etwas Wahres. Und wird das Falsche als falsch aufgefaßt, so ist da material und formal etwas Falsches. Wird ferner das an sich Wahre als falsch aufgefaßt, so ist da formal Falsches, material Wahres. Also in jedem dieser drei Fällen wird irgendwie der Wesenscharakter des Meineides gewahrt, weil in jedem eine gewisse Art Falsches sich findet. Weil aber überall das, was bestimmend oder formal in einem Dinge ist, dem vorangeht, was in diesem selben Dinge bestimmbar oder material ist; so steht nicht jener in selbem Grade als meineidiger da, der Falsches beschwört in der Überzeugung, es sei wahr, wie jener, der Wahres beschwört, aber in der Überzeugung, es sei falsch. Deshalb fügt da Augustin hinzu: „Es kommt hier darauf an, wie das Wort vom Innern ausgeht; denn schuldig wird erst die Zunge, wenn die Absicht im Geiste eine schuldvolle ist.“
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