Erster Artikel. Die Achtung ist eine eigene besondere Tugend.
a) Das scheint nicht. Denn: I. Die Tugenden unterscheiden sich gemäß den Gegenständen. Der Gegenstand der Hochachtung ist aber der nämliche wie der der Hingebung oder Pietät. Denn, sagt Cicero (I.
c), „Hochachtung nennt man jene Tugend kraft deren wir Personen, die in Würden voranstehen, durch Dienstleistung und Verehrung auszeichnen.“ Aber auch die Eltern stehen an Würde voran und werden ausgezeichnet durch Dienstleistung und Ehre. II. Wie durch Würde und Stellung, so stehen uns andere Menschenvoran in Wissenschaft und Tugend. Letzteren aber gegenüber findet sich keine specielle Tugend, durch die wir sie auszeichnen; also auch nicht den ersteren gegenüber. III. Den Menschen, die in Würde und Stellung, d. h. in hohen Ämtern sind, gebührt Vieles, nach dem Apostel (Rom. 13.): „Gebet Jedem, was ihr ihm schuldet: Tribut, dem Tribut gebührt etc.“ Dazu aber zwingt die gesetzliche Gerechtigkeit. Also ist die Hochachtung nur die gesetzlicheGerechtigkeit. Auf der anderen Seite steht die Stelle bei Cicero.
b) Ich antworte; gemäß dem Vorrange der Personen, denen wir etwas schulden, müssen sich die entsprechenden Tugenden unterscheiden. Wie aber der leibliche Vater etwas hat vom Charakter des Princips, der für alles Sein in Gott gefunden wird, so hat eine Person, die in etwa an der Vorsehung für uns in ihrer Weise teilnimmt, Anteil an der Eigenheit des Vaters; der ja als Vater das Princip der Zeugung, Erziehung, des Unterrichts und alles dessen, was zur Vollendung des menschlichen Lebens gehört, im allgemeinen ist. Nun ist die Person, die in Amt und Würden steht, wie ein Princip der Leitung in gewissen Dingen. Der Fürst z. B. in den bürgerlichen Dingen des Staates, der Heerführer in den kriegerischen, der Lehrer im Unterrichte und ähnlich im Übrigen. Deshalb nennen wir alle jene Personen „Väter“, wegen der Ähnlichkeit der Obsorge, wie die Knechte zu Naaman sagen (4. Kön. 5.): „Vater, obgleich dir der Prophet eine große Sache gesagt hat.“ Wie also die „Religion“ die Verehrung Gottes, die „Pietät“ jene der Eltern und des Vaterlandes, so regelt als eine Art „Pietät“ die „Hochachtung“ die Verehrung und Dienstleistung gegenüber den Personen in Amt und Würden.
c) I. Wie die „Religion“ in hervorragendem Sinne „Pietät“ genannt, doch aber als Tugend von ihr unterschieden wird; so wird die „Pietät“ im hervorragenden Sinne manchmal „Hochachtung“ genannt, ist aber eigentlich eine von dieser verschiedene Tugend. II. Der in Amt und Würden steht, genießt nicht nur eines gewissen Vorranges, sondern hat auch die Leitung über untergebene und trägt danach den Charakter eines Princips. Durch die Wissenschaft und Tugend an sich aber hat wohl jemand einen Vorzug vor dem anderen, aber ist damit noch nicht thatsächlich mit der Leitung anderer betraut. Es besteht da also keine eigene Tugend, wie bei den ersteren die Hochachtung. Weil aber Wissenschaft und Tugend geeignet macht, andere zu leiten, so erstreckt sich die Hochachtung auch nach dieser Seite hin. III. Die Gerechtigkeit vergilt Gleiches mit Gleichem. Das kann man aber nicht den tugendhaften Personen und den in Amt und Würden stehenden gegenüber; wie ähnlich nicht gegenüber Gott und den Eltern. Also genügt da nicht die gesetzliche Gerechtigkeit, sondern es bedarf einer eigenen mit der Gerechtigkeit verbundenen Tugend.
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