Zweiter Artikel. Die Wahrheit ist eine eigene besondere Tugend.
a) Das scheint nicht. Denn: I. „Wahr“ und „gut“ sind Begriffe, die sich gegenseitig decken. Die Güte aber ist keine eigene Tugend; also auch nicht die Wahrheit. II. Offenbaren das, was auf die eigene Person sich bezieht, ist die Thätigkeit der Wahrheit, von der wir jetzt sprechen. Das aber gehört jeder Tugend an; denn jeglicher tugendhafte Zustand wird offenbar durch die eigens entsprechende Thätigkeit. Also ist die Wahrheit keine besondere Tugend. III. Die Wahrheit des Lebens heißt so, weil dadurch man recht lebt. Über sie aber heißt es Isai. 38.: „Gedenke, wie ich vor Dir gewandelt bin in der Wahrheit und in vollkommenem Herzen.“ Vermittelst einer jeden Tugend nun wird recht gelebt; vgl. I., II. Kap. 55, Art. 4. IV. Die Wahrheit scheint mit der Einfalt zusammenzufallen; denn Beidem steht entgegen die Doppelzüngigkeit. Die Einfalt aber ist keine eigene besondere Tugend. Denn sie stellt die rechte Absicht her; was zu jeder Tugend erfordert wird. Auf der anderen Seite wird die Wahrheit 2 Ethic. 7. neben den anderen Tugenden aufgezählt
b) Ich antworte, die Tugend mache die Thätigkeit des Menschen zu einer guten. Wo also ein specieller Charakter des Guten sich findet, daraufhinmuß der Mensch durch eine specielle Tugend vorbereitet werden. Da nun das Gute nach Augustin (de nat. Boni 5.) in der Ordnung besteht, so muß auf Grund einer entsprechend eigens bestimmten Ordnung der specielle Charakter des Guten abgeleitet werden. Nun ist es eine eigens bestimmte Art Ordnung, wodurch unsere Worte und Thaten als äußere Zeichen zu etwas Beziehung haben wie zum Bezeichneten; und mit Bezug darauf wird der Mensch vollendet durch die Wahrheit. Also ist die Wahrheit eine specielle Tugend.
c) I. Alles, was wahr ist, das ist wohl insoweit auch gut, und umgekehrt. Aber nach der Begriffsbestimmung des Wesens ragt das Eine in seinem Bereiche über das Ändere hervor. Denn die Vernunft erkennt den Willen; aber auch vieles Andere. Und der Wille begehrt das, was zur Vernunft Beziehung hat; aber noch dazu vieles Andere. Das Wahre also seinem Wesenscharakter nach, der da besteht in der Vollendung der Vernunft, ist ein besonderes, einzelnes beschränktes Gut; und umgekehrt ist das Gute wesentlich, d. h. als Zweck des Begehrens, ein beschränktes, einzelnes Wahres, insoweit es vernünftig erkennbar ist. Insofern also die Tugend in sich einschließt den Wesenscharakter des Guten, kann die Wahrheit ganz wohl eine specielle Tugend sein, weil das Wahre ein specielles Gut ist. Die Güte aber kann keine specielle Tugend sein, da vielmehr gemäß der Vernunftregel die „Art“ einer Tugend bestimmt wird. II. Die tugendhaften oder lasterhaften Zustände haben ihren Wesenscharakter gemäß dem, was direkt, an und für sich beabsichtigt ist; nicht aber gemäß dem, was nebensächlich ist d. h. von der Absicht oder guten Meinung absieht. Daß nun jemand offenbar macht, was auf ihn Bezug hat, gehört zwar zur Tugend der Wahrheit als direkt und an und für sich beabsichtigt; zu den anderen Tugenden aber nur als Folge, d. h. ohne Absicht. Der „Starke“ z. B. hat die Absicht, kraftvoll zu handeln. Daß er aber, indem er so handelt, seine Stärke offenbar macht, die er hat; das folgt in nebensächlicher Weise, nämlich abgesehen von der eigentlichen Absicht. III. Die Wahrheit des Lebens ist eine Wahrheit, gemäß welcher etwas wahr ist; nicht eine Wahrheit, gemäß welcher jemand das Wahre sagt. Wahr nun heißt ein Leben oder ein Ding, insofern es seine Regel und Richtschnur erreicht, nämlich das göttliche Gesetz; und solche Wahrheit kommt einer jeden Tugend zu. IV. Die Einfalt steht entgegen der Doppelzüngigkeit, insofern jemand etwas Anderes spricht und etwas Anderes im Herzen hat; danach also gehört sie zu dieser Tugend, zur Wahrheit. Sie stellt zudem die rechte Absicht her; nicht zwar direkt, denn das thut jede Tugend, sondern in dem Sinne, daß sie das Doppelte ausschließt, vermöge dessen jemand Anderes zeigt und Anderes beabsichtigt.
