Erster Artikel. Die Wahrheit ist eine Tugend.
a) Dagegen spricht Folgendes: I. Die erste unter den Tugenden ist der Glaube, dessen Gegenstand die Wahrheit ist. Da der Gegenstand nun früher ist wie der entsprechende Zustand und die diesbezügliche Thätigkeit, so scheint die Wahrheit etwas der Tugend Vorhergehendes zu sein. II. 4. Ethic. 7. sagt Aristoteles, der Wahrheit entspreche es, daß jemand bekenne, das, was ihn angeht, sei so wie es wirklich ist, nicht größer und nicht kleiner. Das ist aber nicht immer lobenswert; — weil nach Prov. 27. „uns ein fremder Mund loben soll und nicht der eigene;“ mit Rücksicht auf das Böse heißt es: „Ihre Sünde haben sie verkündet wie Sodoma und nicht haben sie dieselbe verborgen.“ (Isai. 9.) Also ist die Wahrheit keine Tugend. III. Die Wahrheit ist keine theologische Tugend. Denn ihr Gegenstand ist nicht Gott, sondern zeitliche Dinge, nach Cicero (2. de lnv.): „Wahrheit ist, wodurch in den Worten unverändert wiedergegeben wird was ist, war und sein wird.“ Sie ist zudem keine Tugend in der Vernunft, sondern der Zweck dieser Tugenden. Endlich ist sie keine moralische Tugend. Denn sie besteht nicht in einer rechten Mitte zwischen dem „zuviel“ dem „zuwenig“; je mehr jemand nämlich Wahres sagt, desto besser ist es. Auf der anderen Seite zählt Aristoteles (2 et 4 Ethic. 7.) Wahrheit zu den Tugenden.
b) Ich antworte, die Wahrheit könne in doppeltem Sinne genommen werden: 1. insoweit kraft der ihm innewohnenden Wahrheit etwas als wahr bezeichnet wird; und danach ist die Wahrheit keine Tugend, sondern Gegenstand oder Zweck der Tugend; sie ist so nichts Anderes als die Gleichheit zwischen der Auffassung in der Vernunft und der Wirklichkeit oder zwischen der Sache und ihrer Regel; — 2. insoweit jemand Wahres sagt und er danach als eine Person „wahrhaft“ genannt wird; und so ist die Wahrheit notwendig eine Tugend. Denn Wahres sagen ist eine gute Thätigkeit; und die Tugend ist ein Zustand, „der gut macht den, der sie hat, und sein Werk zu einem guten macht.“
c) I. Das bezieht sich auf die Wahrheit gemäß der ersten Auffassung. II. Das aussprechen oder bekennen, was einen selber angeht so, wie es ist, das ist der „Art“ nach etwas Gutes. Aber dies genügt noch nicht zu einer Tugend; dazu sind auch die geeigneten Umstände erforderlich. Und danach ist es fehlerhaft, wenn jemand ohne gebührende Ursache sich selbst lobt, auch wenn er bei der Wahrheit bleibt; — und ebenso ist es fehlerhaft, wenn jemand seiner Sünden sich rühmt oder unnützerweise sie offenbar macht. III. Wer die Wahrheit spricht, laßt einige Zeichen von sich ausgehen, die den Dingen in der Wirklichkeit entsprechen; seien diese Zeichen Worte oder äußerliche Werke oder was immer für äußere Dinge. Darauf aber, nämlich auf den Gebrauch der äußeren Glieder oder überhaupt des Außenstehenden, soweit dieser Gebrauch durch die Vorschrift des Willens geregelt wird, richten sich allein die moralischen Tugenden. Die Wahrheit also ist eine moralische Tugend. Es ist ihr nun in doppelter Weise eine rechte Mitte eigen: nämlich von seiten des Gegenstandes und von seiten des Aktes: Von seiten des Gegenstandes, weil die Wahrheit ihrem Wesen gemäß eine gewisse Gleichheit ist; „gleich“ aber in der Mitte steht zwischen dem „zu viel“ und dem „zuwenig“, so daß, wer Wahres über sich selber sagt, die Mitte hält zwischen dem, der zu Großes von sich erzählt und dem, der zu Geringes von sich berichtet; — von seiten des Aktes selber, insoweit man das Wahre sagt, wann, wem und wie es sich gebührt. Das „zuviel“ ist dann auf seiten desjenigen, der ungelegentlicherweise offenbar macht, was sich auf ihn bezieht; das „zuwenig“ auf seiten jenes, der verbirgt, wann er offenbar machen sollte.
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