Vierter Artikel. Die Heuchelei ist nicht immer Todsünde.
a) Das Gegenteil scheint zu sagen: I. Hieronymus zu Isai. 16.: „Offen sündigen ist nicht so schwer wiegend wie Heiligkeit heucheln;“ Augustin zu Ps. 63. (Scrutati): heuchelte Billigkeit ist doppelte Sünde;“ die Glosse zu Thren. 4. (major effecta est): „Die Verbrechen jener Seele werden beklagt, welche in Heuchelei fällt; denn die Bosheit einer solchen Seele ist größer wie die Sünde Sodomas.“ II. Gregor (31. moral. 6.): „Die Heuchler sündigen aus Bosheit;“ also ist dies eine Sünde gegen den heiligen Geist. III. Job 36.: „Die Heuchler und die Schlauen rufen den Zorn Gottes auf sich herab;“ und Job 13.: „Es wird nicht kommen vor sein Angesicht ein Heuchler.“ Von der Anschauung Gottes aber schließt nur die Todsünde aus; und ebenso waren die Sünden Sodomas Todsünden. Also ist Heuchelei eine Todsünde. IV. Auf der anderen Seite ist die Heuchelei eine Lüge im Thätig sein. Nicht jede solcher Lügen aber ist Todsünds. V. Die Absicht des Heuchlers geht darauf gut zu scheinen; was gegen die heilige Liebe ist. VI. Die Heuchelei kommt von der Eitelkeit (31. moral. 17.), die immer Todsünde ist.
b) Ich antworte, in der Heuchelei finde sich der Mangel an Heiligkeit, trotzdem aber die Anzeichen derselben. Richtet sich also die Absicht de Heuchlers auf Beides: nämlich will er nicht die Heiligkeit und will er doch das Zeichen derselben, wie die Schrift gewöhnlich die Heuchelei nimmt; so ist dies offenbar eine Todsünde, denn niemand ist gänzlich der Heiligkeit bar, so daß er sie nicht will, außer auf Grund einer Todsünde. Will aber der Heuchler nur heilig scheinen; dann, mag er auch im Stande der Todsünde sein, insofern er der Heiligkeit bar ist, ist das Heucheln selber nicht immer Todsünde, sondern manchmal läßliche. Hier entscheidet der Zweck. Denn widerstreitet der Zweck des Heuchlers der Liebe Gottes oder des Nächsten, so ist die Heuchelei selber Todsünde; wie wenn jemand heuchelt, damit er falsche Lehren säen oder kirchliche Würden erlange oder andere zeitliche Güter, die er sich als Endzweck vorstellt. Widerstreitet aber der Zweck des heuchelnden nicht der heiligen Liebe, so ist seine Heuchelei läßliche Sünde; wie wenn jemand am Heucheln oder Sich-Verstellen selber sich ergötzt, was „vielmehr unnütz und eitel ist wie schlecht.“ (L. c.) Bisweilen endlich heuchelt jemand heilige Vollkommenheit, insoweit diese nicht zum Heile erfordert ist; und solches Heucheln ist weder Todsünde noch immer mit innerer Todsünde zusammenbestehend.
c) Damit beantwortet.
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