Vierter Artikel. In erster Linie beschäftigt sich die Freigebigkeit mit dem Geben.
a) Dem steht entgegen: I. Die Freigebigkeit hat ihre Richtschnur in der Klugheit. Dieser aber kommt es im höchsten Grade zu, den Reichtum zu bewahren; so daß Aristoteles sagt (I.
c): „Wer ein Vermögen nicht selber erworben, sondern empfangen hat das, was andere erworben haben; der giebt es mit mehr Freigebigkeit aus, denn er hat nicht die Erfahrung gemacht, was es heißt: Notleiden.“ Also ist nicht das Geben die Hauptthätigkeit der Freigebigkeit. II. Worauf jemand in erster Linie seine Absicht lenkt, das setzt ihn nicht in Trauer und davon läßt er auch nicht ab. Der freigebige aber ist manchmal traurig über das, was er gegeben; und er giebt auch nicht allen. (4 Ethic. 1.) Also ist es nicht die Hauptthätigkeit für die Tugend der Freigebigkeit, daß sie giebt. III. Um das zu vollbringen, was er an erster Stelle beabsichtigt, bedient sich der Mensch aller möglichen Mittel und Wege. Der freigebige aber bittet nicht gern (4 Ethic. 1.); obgleich dies doch oft ein Mittel ist, um es zu ermöglichen, daß er anderen gebe. Also sieht er nicht zu allererst darauf, daß er etwas gebe. IV. In höherem Grade ist der Mensch dazu verpflichtet, daß er für sich selber sorge als daß er an andere denke. Wenn er aber Ausgaben macht, da sorgt er für sich; wogegen, wenn er giebt, er an andere denkt. Also geht es den freigebigen mehr an, für sich Verwendungen zu machen wie anderen zu geben. Auf der anderen Seite „ist der freigebige überreichlich im Geben,“ nach 4 Ethic. 1.
b) Ich antworte, dem freigebigen sei es eigen, das Geld zu gebrauchen. Der Gebrauch des Geldes aber besteht in dessen Verausgabung. Denn der Gelderwerb ist ähnlicher dem Erzeugen wie dem Gebrauchen; und das Aufbewahren des Geldes ist, insoweit dies darauf hinzielt, es einmal zu gebrauchen, einem Zustande ähnlich. Da nun, in je weitere Entfernung etwas geworfen wird, dies eine um so größere Kraft verrät; so geht es aus einer größeren entsprechenden Tugend hervor, daß jemand sein Geld verausgabt, indem er es anderen giebt als wenn er es für sich selbst verwendete. Der Tugend aber ist es eigen, daß sie gerade daraufhin sich richtet, was vollendeter ist; „denn die Tugend ist eine gewisse Vollendung.“ (7 Physic.) Der freigebige also wird darum im höchsten Grade gelobt, daß er anderen giebt.
c) I. Die Klugheit hat das Geld zu bewahren, daß es nicht heimlich entwendet oder unnütz ausgegeben werde. Nützlicherweise aber das Geld ausgeben ist eine ebenso große Klugheit, als es für irgend einen Nutzen aufbewahren; oder vielmehr es ist dies eine größere Klugheit. Denn mehr Umstände sind zu berücksichtigen beim Gebrauchen des Geldes, was einer Bewegung ähnelt; wie bei dessen Aufbewahrung, die mehr Ruhe ist. Wer aber das von anderen erworbene Geld freigebiger verausgabt, nur weil er Not aus Erfahrung kennen gelernt hat; der hat nicht die Tugend der Freigebigkeit. Jedoch entfernt manchmal solcher Mangel an Erfahrung nur ein Hindernis für die Tugend der Freigebigkeit. Die Furcht nämlich vor dem Notleiden, das man einmal erfahren, hindert oft jene, die sich Geld erworben haben, es freigebig zu verwenden; und ebenso ist dies der Fall mit der liebe zum Gelde, weil der Besitz desselben die Wirkung eigener Arbeit ist. (4 Ethic. 1.) II. Die Freigebigkeit will in zukömmlicher Weise das Geld gebrauchen und somit auch in zukömmlicher Weise anderen geben. Jede Tugend nun hat Trauer zur Folge über das ihr Entgegengesetzte und vermeidet das, was hinderlich ist. Dem zukömmlichen Geben aber ist zweierlei entgegengesetzt; nämlich: 1. das nicht geben, was man passenderweise geben kann; und 2. geben etwas in unzukömmlicher Weise, über Beides also ist der freigebige traurig; mehr über das Erstere, weil dies in höherem Grade der eigentlichen Thätigkeit der Freigebigkeit zuwider ist. Und deshalb giebt er nicht allen; denn dadurch würde seine eigenste Thätigkeit als die eines freigebigen gehindert werden, wenn er allen gäbe; da er schließlich nichts mehr hätte, um denen zu geben, welchen zu geben sich gebührt. III. Geben und Empfangen verhalten sich wie Wirken und Leiden. Es ist aber nicht ein und dasselbe das Princip für das Einwirken und zugleich für das Leiden. Weil also die Freigebigkeit das Princip des Gebens ist, so gehört es nicht dem freigebigen zu, daß er bereitwillig sei, um zu empfangen und noch weniger, um zu bitten oder zu fordern. Deshalb heißt im gewöhnlichen Leben nach dem Worte des Dichters: „Wer in dieser Welt bei vielen angenehm sein will, der gebe sehr viel, nehme wenig, bitte nichts.“ Der freigebige aber bezieht gemäß den Erfordernissen der Freigebigkeit das Entsprechende auf das Geben; nämlich die Früchte der eigenen Besitzungen, welche er sorgsam pflegt, um sie freigebig zu gebrauchen. IV. Um für sich selbst Ausgaben zu machen; dazu ist die Natur hinreichendes Princip. Um anderen zu geben, dazu wird eine Tugend erfordert.
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