Fünfter Artikel. Die Freigebigkeit ist ein Teil der Gerechtigkeit.
a) Dies scheint nicht. Denn: I. Die Gerechtigkeit geht auf das, was geschuldet ist; in selbem Grade aber wie etwas geschuldet ist, ist es minder freigebig. Also gehört die Freigebigkeit nicht zur Gerechtigkeit. II. Die Gerechtigkeit hat die Thätigkeiten des Menschen mit Bezugauf das Außenliegende zum Gegenstande; die Freigebigkeit richtet sich auf die Regelung der Liebe und Begierde mit Rücksicht auf das Geld, also auf Leidenschaften. Sonach ist die Freigebigkeit kein Teil der Gerechtigkeit. III. Der Freigebigkeit entspricht es, in zukömmlicher Weise zu geben. Dies aber wird von der Wohlthätigkeit und Barmherzigkeit geregelt; von Tugenden also, die zur heiligen Liebe gehören. Auf der anderen Seite sagt Ambrosius (1. de offic. 28.): „Die Gerechtigkeit hat zum Zwecke die Aufrechthaltung der menschlichen Gesellschaft. Der zusammenhaltende wesentliche Grund der menschlichen Gesellschaft aber zerfällt in zwei Teile: in die strenge, gesetzliche Gerechtigkeit und in die Wohlthätigkeit, die man auch Freigebigkeit oder Güte nennt.“ Also ist die Freigebigkeit ein Teil der Gerechtigkeit.
b) Ich antworte, die Freigebigkeit sei keine eigentliche Gattung in der „Tugendart“ Gerechtigkeit. Denn die Gerechtigkeit giebt dem anderen was sein ist; die Freigebigkeit, was ihr, nämlich der freigebigen Person selber, zugehört. Aber letztere Tugend kommt mit der Gerechtigkeit in zwei Dingen überein: 1. weil sie an erster Stelle sich auf den anderen bezieht wie auch die Gerechtigkeit; 2. weil sie mit den außen befindlichen Dingen sich beschäftigt wie ebenfalls die Gerechtigkeit. Und deshalb betrachtet man die Freigebigkeit als eine zur Gerechtigkeit hinzutretende Tugend.
c) I. Die Freigebigkeit richtet sich allerdings nicht auf etwas gesetzlich Geschuldetes; aber doch auf etwas moralisch Geschuldetes, nämlich infolge einer gewissen Wohlanständigkeit. II. Die Mäßigkeit regelt die sinnlichen Leidenschaften, soweit sie im körperlichen Ergötzen bestehen; dazu gehört aber nicht die Begierde nach Geld und das Ergötzen daran. III. Die Wohlthätigkeit oder Barmherzigkeit giebt, weil man zu jenem Zuneigung hat, dem man giebt; und deshalb ist das zur Liebe gehörig. Die Freigebigkeit aber giebt, weil sie das Geld selber weder liebt noch begehrt; so daß sie nicht nur befreundeten, sondern auch unbekannten giebt, wann dies sich trifft. Sie gehört also nicht zur Liebe, sondern vielmehr zur Gerechtigkeit, deren Gegenstand die äußeren Dinge sind.
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