Erster Artikel. Die Furcht ist eine Sünde.
a) Dem wird widersprochen. Denn: I. Die Furcht ist eine Leidenschaft; also verdient sie weder Lob noch Tadel. Jede Sünde aber verdient Tadel. II. „Das Gesetz ist fleckenlos,“ nach Ps. 18. Paulus aber gebietet (Ephes. 6.): „Ihr Knechte dienet eueren Herren in Furcht und Zittern.“ Also ist die Furcht keine Sünde. III. „Die Sünde ist gegen die Natur,“ sagt Damascenus. (2. de orth. fide 3.) Fürchten aber wohnt dem Menschen von Natur inne, so daß Aristoteles (3 Ethic. 7.) sagt: „Der ist ein Thor oder stumpfsinnig, wer nicht fürchtet, weder ein Erdbeben noch Überschwemmung.“ Auf der anderen Seite sagt der Herr (Matth. 10.): „Fürchtet nicht jene, die den Leib töten;“ und Ezech. 2.: „Fürchte nicht sie und ihre Reden.“
b) Ich antworte, sündhaft sei etwas in den menschlichen Handlungen auf Grund des Mangels an Ordnung. Nun ist dies die Ordnung im Bereiche des Menschlichen und somit das Gute, daß das Begehren unterliege der Vernunft. Die Vernunft aber bestimmt, Einiges sei zu fliehen, und zwar dieses mehr wie jenes; — Anderes aber sei zu erstreben, und zwar ebenfalls dieses mehr wie jenes. Und um so mehr ist ein Übel zu fliehen, je mehr das entgegengesetzte Gut erstrebt werden soll. Deshalb bestimmt also die Vernunft, einiges Gute sei in höherem Grade zu erstreben, wie manches Übel zu fliehen. Flieht also das Begehren vor etwas, wo die Vernunft sagt, dies sei geduldig zu tragen, damit nicht größere Güter verloren gehen; — so ist dies eine ungeordnete Furcht und ist Sünde. Flieht aber das Begehren vor etwas, wo die Vernunft sagt, dies sei zu fliehen, so ist solche Furcht keine Sünde.
c) I. Furcht im allgemeinen will sagen: Fliehen. Danach ist sie weder gut noch schlecht, wie jede andere Leidenschaft. Sie wird wie jede andere tadelnswert, wenn Unordnung, wie eben gesagt, hinzutritt. II. Jene Furcht, wozu der Apostel ermahnt, ist der Vernunft gemäß. III. Die Vernunft bestimmt ebenfalls, jene Übel feien zu fliehen, denen man nicht widerstehen kann; und die zu ertragen zu nichts nützt. Da ist keine Sünde in der Furcht.
