Erster Artikel. Die Verschämtheit ist keine Tugend.
a) Dies wird bestritten. Denn: I. Die Verschämtheit besteht in der rechten, durch die Vernunft bestimmten Mitte; nach 7 EEthic. 7. II. Die Verschämtheit ist etwas Lobenswertes. Also ist sie eine Tugend oder gehört zu einer Tugend. Sie gehört aber nicht zur Klugheit, denn sie ist im begehrenden Teile; nicht zur Gerechtigkeit, denn sie richtet sich auf eine gewisse Leidenschaft, was bei der Gerechtigkeit nicht der Fall ist; nicht zur Stärke, denn sie flieht vor etwas anstatt daß sie angreift oder aushalte; nicht zur Mäßigkeit, denn sie ist eine Furcht, während die Mäßigkeit sich mit Begierden befaßt. Also ist sie selber Tugend. III. „Ehrbar“ und „Tugend“ decken sich. (Cicero de offic. 1.) Die Verschämtheit aber ist ein Teil der Ehrbarkeit, wie Ambrosus (1. de offic. 43.) sagt: „Die Verschämtheit ist vertraut und verbunden mit einem gefälligen Sinne, flieht die Frechheit, ist fern von allem Luxus, liebt die Nüchternheit, pflegt die Ehrbarkeit, verlangt nach Schicklichkeit.“ Also ist sie eine Tugend. IV. Unverschämtheit und ungeregeltes Anstaunen stehen zur Verschämtheit im Gegensatze. Dies aber sind Laster; also ist die Verschämtheit eine Tugend. V. „Von einander ähnlichen Thätigkeiten werden Zustände erzeugt.“ (2 Ethic. 1.) Die Verschämtheit nun besagt eine lobenswerte Thätigkeit. Also wird aus mehreren Thätigkeiten der Verschämtheit ein Zustand erzeugt. Ein Zustand aber für lobenswerte Thätigkeiten ist Tugend. Also. Auf der anderen Seite schreibt Aristoteles, die Verschämtheit sei keine Tugend. (2 Ethic. 7.)
b) Ich antworte, die Tugend besage im eigentlichen Sinne Vollendung. Was also der Vollendung widerstreitet, mag es auch sonst gut sein, ist keine Tugend. Die Verschämtheit aber widerstreitet der Vollendung, denn sie ist die Furcht vor etwas Schändlichen. (Damaso. 2. de orth. fide 15.) Wie nun die Hoffnung etwas zum Gegenstande hat, was möglich und schwer erreichbar ist; so hat die Furcht etwas zum Gegenstande, was möglich und schwer erreichbar ist. Der aber gemäß einem Tugendzustande vollendet ist, erfaßt nicht etwas Schändliches, als ob es für ihn möglich wäre, es zu thun, oder schwer, es zu vermeiden; — er thut auch thatsächlich nichts Schändliches, von woher er Schande fürchtete. Also ist die Verschämtheit im eigentlichen Sinne keine Tugend; es mangelt ihr dazu die Vollendung. Weil aber alles Gute und Lobenswerte in den menschlichen Handlungen gemeinhin Tugend genannt wird; deshalb heißt auch die Verschämtheit bisweilen Tugend, da sie doch nichts Anderes ist als eine lobwerte Leidenschaft.
c) I. Zur Tugend gehört nicht nur, daß sie die rechte Mitte einhalte; es muß auch ein Zustand sein, von dem aus frei gewählt wird. Die Verschämtheit aber ist keine freie Thätigkeit, sondern eine Leidenschaft. II. Die Verschämtheit ist die Furcht vor Schändlichem. Die Unmäßigkeit nun ist im höchsten Grade schändlich. Also hält sich die Verschämtheit vorzugsweise zur Mäßigkeit. Insoweit aber andere Laster ebenfalls schändlich und abscheulich sind, kann die Verschämtheit auch zu den diesen entgegengesetzten Tugenden gehören. III. Die Verschämtheit nährt die Ehrbarkeit, weil sie das ihr Hinderliche und Entgegengesetzte entfernt. IV. Jeder Mangel stellt eine Sünde her; nicht aber jegliches Gute eine Tugend. Nicht also Alles, was einer Sünde entgegengesetzt ist, braucht damit sogleich Tugend zu sein; obgleich jede Sünde ihrem Ursprünge nach einer Tugend entgegensteht. Und so steht die Unverschämtheit, als herrührend von allzu großer Liebe des Schändlichen, der Mäßigkeit gegenüber. V. Aus verschiedenen Akten der Verschämtheit wird der Zustand jener erworbenen Tugend erzeugt, kraft deren jemand das betreffende Schändliche, den Gegenstand der Verschämtheit nämlich, meidet; — nicht aber ein Zustand, daß man immer weiter sich schäme. Vielmehr kommt es aus dem Zustande der erworbenen Tugend, daß jemand sich so verhält, daß er mehr sich schämen würde, wenn ein entsprechender Gegenstand der Scham da wäre.
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