Zweiter Artikel. Die Bewahrung der Jungfräulichkeit ist erlaubt.
a) Das scheint nicht. Denn: I. Was einem Gebote des Naturrechts widerspricht, ist unerlaubt. Wie aber das Gebot: „Von jedem Baume im Paradiese iß“ (Gen. 2.) die Erhaltung des Einzelwesens zum Zwecke hat; so das Gebot: „Wachset und mehret euch und erfüllet die Erde“ (Gen. 1.) die Erhaltung der Gattung. Wie also sündigen würde jener, der sich jeglicher Speise enthalten wollte, so auch sündigt derjenige, der die Jungfräulichkeit wahrt. II. Was von der rechten Mitte sich entfernt, ist fehlerhaft. Das ist aber der Fall bei der Jungfräulichkeit, kraft deren man sich alles geschlechtlichen Ergötzens enthält. Denn Aristoteles sagt (2 Ethic. 2.): „Wer jeglichem Vergnügen nachgeht und keines vermeiden will, ist unmäßig; wer aber alle flieht wie ein wilder, ist stumpfsinnig.“ III. Strafe wird nur über Sünden verhängt. Nach Valerius Maximus (2. c. 4. n. 2.) aber wurden die Hagestolze gesetzlich bestraft. Und von Plato berichtet Augustin (de vera Relig. 3.), er habe der Natur geopfert, damit seine beständige Enthaltsamkeit, als ob sie eine Sünde wäre, verloren gehe.“ Auf der anderen Seite wird I. Kor. 7. die Jungfräulichkeit ausdrücklich angeraten, was in jedem Falle ausschließt, daß sie Sünde sei.
b) Ich antworte, fehlerhaft sei bei den menschlichen Handlungen Alles, was gegen die gesunde Vernunft ist. Dies aber entspricht der gesunden Vernunft, daß des zum Zwecke Dienlichen man sich gemäß jenem Maße bediene, welches dem Zwecke angemessen ist. Nun giebt es für den Menschen äußere Güter, wie der Reichtum; Güter mit Bezug auf seinen Körper, wie die Gesundheit; und Seelenguter, wie die Tugenden. “Unter den der Seele entsprechenden Gütern aber stehen die des beschaulichen Lebens höher als die des thätigen Lebens, wie 10 Ethic. 7. gezeigt wird und wie der Heiland sagt (Luk. 10.): „Maria hat den besten Teil gewählt.“ Danach nun dienen die äußeren Güter denen des Körpers, diese denen der Seele und unter den letzteren haben die Güter des thätigen Lebens ihren Zweck in denen des beschaulichen Lebens. Und demgemäß schreibt die gesunde Vernunft vor, worin man für jede einzelne Art dieser Güter das Maß zu erblicken hat. Wer also etwas von seinem Besitze opfert, damit er die Gesundheit des Leibes bewahre oder wiederherstelle; — oder wer körperlicher Ergötzlichkeiten sich enthält, damit er sich in höherem Grade der Betrachtung und Beschauung der Wahrheit also widme; der thut gemäß der gesunden Vernunft und begeht keinen Fehler. Das ist aber der Zweck der heiligen Jungfräulichkeit, daß die Seele sich eingehender mit der ewigen Wahrheit beschäftige, wie 1. Kor. 7. es heißt: „Die unverheiratete Frau und die Jungfrau denkt an das, was sich auf den Herrn bezieht, daß sie heilig sei im Körper und in der Seele; die aber verheiratet ist, denkt an das, was sich auf die Welt bezieht, wie sie dem Manne gefalle.“ Also ist die Jungfräulichkeit etwas Lobenswertes.
c) I. Das Gebot schließt eine Verpflichtung ein. In doppelter Weise aber besteht eine Verpflichtung oder wird etwas geschuldet: einmal so, daß nur ein einziger verpflichtet ist; dann, daß die Verpflichtung auf einer Vielheit von Menschen beruht. Zu letzterer Art Verpflichtung nun ist nicht jeder anzuhalten, der da ein Glied dieser Vielheit ist; sondern im Bereiche dessen, was einer Vielheit obliegt, ist diese Vielheit als Ganzes verpflichtet und wird da in der Weise genuggethan, daß der eine Dies, der andere Jenes thut. Das Gebot aber zu essen erstreckt sich auf jeden einzelnen Menschen und muß somit von jedem einzelnen eingehalten werden, da ohne das die Natur des einzelnen nicht bestehen kann. Das Gebot wegen der Zeugung dagegen erstreckt sich auf die ganze Menschheit als ein Ganzes; da nicht nur es notwendig ist, in körperlicher Weise sich zu vervielfältigen, sondern auch, dem Geiste nach sich zu entwickeln. Also genügt es vollkommen, wenn einige sich mit der Zeugung dem Körper nach befassen; während andere dem Wohle und der Schönheit des ganzen Menschengeschlechts dadurch dienen, daß sie vom körperlichen Zeugen fernbleiben und sich mit der Betrachtung des Göttlichen beschäftigen. So bewachen ja auch in jedem Heere die einen das Lager, die anderen kämpfen mit dem Feinde, und andere tragen die Fahnen etc.; was Alles dem Heere als einer Vielheit von Menschen notwendig ist; nicht aber so, daß ein einziger dies Alles thun könnte. II. Wer sich aller Ergötzlichkeiten gegen die gesunde Vernunft enthält, indem er das Ergötzliche an sich fürchtet und verabscheut, der ist stumpfsinnig und ein wilder. Die Jungfrau aber enthält sich nur des Geschlechtlichen; und sie enthält sich dessen gemäß der Vernunft (s. oben). Die rechte Mitte wird nicht durch den Umfang, sondern durch die Vernunft festgestellt. (2 Ethic. 6.) Deshalb sagt Aristoteles (4 Ethic. 3.): „Der hochherzige hält die rechte Mitte ein, weil er handelt wie es sich gebührt; wenn auch das, was er thut, das Größte und Äußerste ist.“ III. Man macht Gesetze gemäß dem, was in den meisten Fällen vorkommt. Bei den Alten aber war es höchst selten, daß jemand aus Liebe zur Betrachtung der Wahrheit sich des geschlechtlichen Ergötzens enthielt. Man liest dies nur von Plato, der da nicht der Natur opferte, weil er die Jungfräulichkeit für Sünde hielt und gewissermaßen sie sühnen wollte; sondern weil er der verkehrten Volksneigung nachgab, wie Augustin da sagt.
