Erster Artikel. Das Verhältnis der Unenthaltsamkeit zur Seele und zum Körper.
a) Die Unenthaltsamkeit erstreckt sich nicht auf die Seele, sondern einzig auf den Leib. Denn: I. Die Verschiedenheit der Geschlechter bezieht sich auf den Körper. Aristoteles aber sagt (7 Ethic. 5.): „Die Frauen nennt man weder enthaltsam noch unenthaltsam.“ Also macht die Verschiedenheit im Geschlechte eine Verschiedenheit in der Enthaltsamkeit. II. Die Unenthaltsamkeit folgt der körperlichen Komplexion, nach 7 Ethic. 7.: „Mit Scharfsinn begabte, also Choleriker und Melancholische, sind in den meisten Fällen gemäß der ungezügelten Begierde unenthaltsam.“ Also geht die Unenthaltsamkeit die Seele nichts an. III. Der Sieg gehört dem siegenden an und nicht dem besiegten. Das gegen den Geist begehrende Fleisch aber besiegt diesen im unenthaltsamen. Also erstreckt sich die Unenthaltfamkeit mehr auf den Leib wie auf die Seele. Auf der anderen Seite unterscheidet sich der Mensch vom Tiere vorzugsweise und an leitender Stelle auf Grund der Seele. Der Unterschied aber zwischen der Enthaltsamkeit und Unenthaltsamkeit besteht gemäß der vernünftigen Seele; denn die Tiere nennen wir weder enthaltsam noch unenthaltsam. Also besteht die Unenthaltsamkeit vorzugsweise auf seiten der Seele.
b) Ich antworte, Jegliches werde in höherem Grade dem zugeschrieben, was an und für sich, also dem inneren Wesen nach, Ursache ist; wie dem, was nur Gelegenheit bietet. Was aber auf seiten des Körpers sich findet, ist nur wie eine Gelegenheit für die Unenthaltsamkeit; denn aus der körperlichen Verfassung kann es sich ergeben, daß heftige Leidenschaften im sinnlichen Begehren aufstehen, welches ja die Kraft eines organischen Körpers ist. Derartige Leidenschaften aber, so heftig sie sind, bilden keine genügende Ursache für die Unenthaltsamkeit, sondern nur eine Gelegenheit; denn, sobald nur der freie Gebrauch der Vernunft bleibt, kann der Mensch Widerstand leisten. Nehmen jedoch die Leidenschaften vermöge ihrer Heftigkeit den freien Gebrauch der Vernunft hinweg, wie dies bei den wahnwitzigen der Fall ist, so kann man weder mehr von Enthaltsamkeit noch von Unenthaltsamkeit sprechen; denn das Urteil der Vernunft ist nicht mehr da, dem der enthaltsame folgt und das der unenthaltsame beiseite läßt. Also besteht die genügende Ursache für die Unenthaltsamkeit auf seiten der Seele, welche den Leidenschaften nicht widersteht. Dies geschieht nun entweder so, daß die Seele den Leidenschaften nachgiebt, bevor sie die Vernunft um Rat gefragt hat; und das ist die zügellose Unenthaltsamkeit; — oder so, daß die Seele in dem, was beraten worden, nicht fest bleibt; und diese Unenthaltsamkeit heißt Schwäche. Immer aber ist die Unenthaltsamkeit an leitender Stelle in der Seele.
c) I. Die menschliche Seele ist die bestimmende Wesensform des Körpers und hat einzelne niedere Kräfte, in deren Thätigkeit wesentlich einige körperliche Organe eintreten. Die Thätigkeiten dieser Kräfte nun tragen auch je in ihrer Weise etwas bei zu jenem Thätigsein der Seele, das sich wesentlich ohne körperliche Werkzeuge vollzieht, nämlich zum Willens- und Vernunftakt; insofern nämlich die Vernunft von den Sinnen her den Gegenstand ihres einzelnen Aktes empfängt und der Wille von der Leidenschaft des sinnlichen Teiles angetrieben wird. Weil nun das Weib im allgemeinen eine schwächere körperliche Komplexion hat, so geschieht es demgemäß in den meisten Fällen, daß sie auch allem Beliebigen weniger stark anhängt; obgleich das Gegenteil ebenfalls, wenn auch selten, vorkommt, nach Prov. ult. 10.: „Ein starkes Weib wer wird sie finden?“ Da aber was gering ist oder schwach für allgemeine Regeln nicht in Betracht kommt, so spricht Aristoteles in der Weise, daß die Weiber nicht ein hinreichend festes, starkes, vernünftiges Urteil hätten; mag auch das Gegenteil bisweilen eintreten. Und darum sagt er, daß wir die Weiber nicht als mit der Enthaltfamkeit ausgestattet betrachten; weil sie nicht einer festen Vernunft folgen, die widersteht, sondern leicht leidenschaftlichen Eindrücken nachgeben. II. Der starke Antrieb der Leidenschaft macht, daß wir sogleich, ohne mit der Vernunft uns zu beraten, den Leidenschaften folgen. Ein solcher heftiger Antrieb pflegt hervorzugehen entweder aus Raschheit wie bei den Cholerischen oder aus Heftigkeit wie bei den Melancholischen, die auf das heftigste entzündet werden. Ebenso geschieht es umgekehrt, daß jemand bei dem Beratenen nicht verharrt wegen der weichen Komplexion wie bei den Weibern oder wegen der phlegmatischen Verfassung des Körpers. Bei dem Allem aber ist die körperliche Komplexion nur Gelegenheit für die Unenthaltsamkeit; nicht die hinreichende Urfache. III. Nicht aus Notwendigkeit besiegt die Begierlichkeit im unenthaltsamen den Geist; sondern infolge einer gewissen Nachlässigkeit des Geistes, der nicht nachhaltig widersteht.
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