Dritter Artikel. Der unmäßige ist weit schlimmer wie der unenthaltsame.
a) Das Gegenteil scheint stattzuhaben. Denn: I. Der unenthaltsame handelt in höherem Maße gegen sein besseres Wissen; „er weiß nämlich, wie schlecht ist das, was er begehrt, und läßt sich doch wegen der Leidenschaft fortreißen“ (7 Ethic. 2.); während der unmäßige urteilt, das, was er begehrt, sei etwas Gutes. „Der Knecht aber, der da weiß den Willen seines Herrn und ihn nicht thut, wird viel bestraft werden.“ (Luk. 12.) Also ist der unenthaltsame schlimmer wie der unmäßige. II. Die Unenthaltsamkeit ist eine in höherem Grade unheilbare Sünde und deshalb schwerer wie die Unmäßigkeit. Denn der Sünder wird durch Belehrung und Zucht geheilt, was beim unenthaltsamen, der da weiß, er thue übel, offenbar nichts nützt; während dem unmäßigen, der meint, gut zu handeln, Belehrung nützen kann. Es ähnelt demnach die Unenthaltsamkeit den Sünden gegen den heiligen Geist, welche nicht vergeben werden. III. Dessen Begierde zu sündigen größer ist, der sündigt schwerer. Die Begierde im unenthaltsamen aber ist größer, weil er heftigere Leidenschaften hat; während das beim unmäßigen nicht immer in diesem Grade der Fall ist. Auf der anderen Seite beschwert die Unbußfertigkeit jede Sünde; und Augustin bezeichnet sie deshalb als Sünde gegen den heiligen Geist. Aristoteles aber sagt (7. Ethic. 7.): „Der unmäßige ist nicht zur Reue geneigt, er bleibt bei seiner Wahl; der unenthaltsame aber ist leichter zur Reue geneigt.“ Also sündigt der letztere nicht so schwer wie der erstere.
b) Ich antworte, die Sünde bestehe nach Augustin (de 2. animab. 10 et 11.) im Willen. „Kraft des Willens wird Gutes gethan und vermöge des Willens gesündigt.“ Wo also eine größere und tiefere Hinneigung des Willens sich findet zum Sündigen, da besteht eine schwerere Sünde. Im unmäßigen nun neigt sich der Wille in höherem Grade zum Sündigen auf Grund freier Wahl, die da ausgeht von einem durch die Gewohnheit erworbenen Zustande; während im unenthaltsamen der Wille sich hinneigt zum Sündigen auf Grund irgend welcher Leidenschaft. Die Leidenschaft aber geht leicht vorüber, während der Zustand eine schwer bewegliche Eigentümlichkeit ist. Deshalb bereut der unenthaltsame sogleich da die Leidenschaft vorübergegangen, was beim unmäßigen nicht stattfindet, der sich vielmehr darüber freut, gesündigt zu haben; weil die Sünde vermöge des Zustandes eine zweite Natur und somit wie etwas Natürliches für ihn geworden ist. Deshalb heißt es von solchen Prov. 2.: „Sie freuen sich, wenn sie Übles gethan und frohlocken auf Grund der schlechtesten Dinge.“ Der unmäßige also sündigt weit schwerer wie der unenthaltsame.
c) I. Die Unwissenheit geht bisweilen der Hinneigung des Begehrens voran und ist ihre Ursache. Danach nun ist die Sünde um so geringer, je größer die Unkenntnis ist; wenn sie nicht etwa die Sünde ganz und gar entschuldigt, insoweit sie Unfreiwilliges verursacht. Umgekehrt ist die Unwissenheit manchmal die Folge der Hinneigung des Begehrens; und solche Unwissenheit ist um so größer, je schwerer die Sünde ist, insofern dadurch angezeigt wird, die Hinneigung des Begehrens sei größer. Die Unkenntnis aber des unenthaltsamen wie des unmäßigen kommt daher, daß das Begehren zu etwas hingeneigt ist entweder durch die Leidenschaft wie im unenthaltsamen oder durch einen Zustand wie im unmäßigen. Die größere Unwissenheit aber wird im unmäßigen nicht verursacht wie im unenthaltsamen; — sowohl was die Dauer anbetrifft, da im unenthaltsamen die Unkenntnis nur während der Erregung der Leidenschaft dauert, wie die Wärme des Wechfelfiebers nur dauert, so lange die Säfte in der entsprechenden Bewegung sind; indes im unmäßigen die Unwissenheit eine dem Zustande entsprechende Dauer hat, so daß sie der Auszehrung oder einer ähnlichen Krankheit gleicht; — als auch was den Gegenstand der Unwissenheit anbetrifft. Denn die Unwissenheit des unenthaltsamen erstreckt sich nur auf einen besonderen einzelnen Gegenstand der Wahl, soweit er meint, dies sei im einzelnen Falle zu erwählen. Der unmäßige aber besitzt seine Unwissenheit mit Rücksicht auf den Zweck, insoweit er meint; es sei dies selbst ein Gut, daß er zügellos seiner Begierde nachgiebt. Deshalb sagt Aristoteles (7 Ethic. 7.): „Der unenthaltsame ist besser wie der unmäßige, denn in ihm bleibt aufrechtstehen das beste Princip,“ nämlich die rechte Wertschätzung des Zweckes. II. Zur Heilung des unenthaltsamen genügt nicht die rechte Kenntnis allein, sondern er bedarf des inneren Gnadenbeistandes, der die Kraft der Begierlichkeit mindert; und es wird auch äußerlich das Heilmittel der Belehrung und Bestrafung angewandt, damit er anfange, den Begierden zu widerstehen, nachdem die Begierde schwächer geworden. Ebenso kann der unmäßige geheilt werden. Jedoch ist dessen Heilung aus zwei Gründen schwerer. Denn 1. ist seine Vernunft schwerer verwundet mit Rücksicht auf den letzten Endzweck, der wie das erste Beweisprincip in den spekulativen Wissenschaften sich im Tugendleben verhält; und schwieriger ist es, jemandem zu helfen, der mit Rücksicht auf das erste Princip irrt; — 3. ist im unmäßigen das Begehren fester auf das Schlechte gerichtet wegen des inneren Zustandes, der nur schwer zu entfernen; während die Neigung des unenthaltsamen von einer Leidenschaft herrührt, die rasch vorübergeht. III. Die Begierde des Willens, welche die Sünde mehrt, ist größer im unmäßigen wie im unenthaltsamen. Aber die Begierde, welche aus dem leidenschaftlichen Eindrucke kommt, ist bisweilen größer im unenthaltsamen wie im unmäßigen. Denn der erstere sündigt nur infolge großer Begierlichkeit der Leidenschaft; während der unmäßige auch aus leichtem leidenschaftlichen Anlasse sündigt und bisweilen ihm zuvorkommt: „Mehr tadeln wir den unmäßigen, weil er nicht aus Begierde oder doch nur aus mäßiger Begierde Ergötzungen nachgeht. Was würde er nämlich thun, wenn jugendliche Begierde ihn entzündete.“
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