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Works Thomas Aquinas (1225-1274) Summe der Theologie
Secunda Pars Secundae Partis
Quaestio 156

Zweiter Artikel. Die Unenthaltsamkeit ist Sünde.

a) Dies scheint nicht. Denn: I. „Niemand sündigt in dem, was er nicht vermeiden kann.“ (Aug. 3. de. lib. arbitr. 18.) „Niemand kann aber enthaltsam sein; es sei denn daß Gott es gebe,“ heißt es Sap. 8. Also. II. Alle Sünde besteht im vernünftigen Urteil. Im unenthaltsamen aber wird dieses Urteil besiegt. Also ist die Unenthaltsamkeit keine Sünde. III. Niemand sündigt, weil er Gott gewaltig liebt. Infolge der Gewalt der göttlichen Liebe aber wird mancher unenthaltsam, wie Dionysius sagt (3. de div. nom.): „Paulus sagte in der Unenthaltsamkeit, welche von der Liebe Gottes in ihm verursacht war: Ich lebe, aber bereits nicht mehr ich.“ (Gal. 2.) Auf der anderen Seite zählt Paulus 2. Tim. 3. die Unenthaltsamkeit neben anderen Sünden auf.

b) Ich antworte, die Unenthaltsamkeit werde 1. genommen im eigentlichen Sinne und schlechthin, insoweit sie sich mit den Ergötzlichkeiten des Tastsinnes beschäftigt, wie auch die Mäßigkeit. Und so aufgefaßt ist sie immer Sünde,

a) weil der unenthaltsame von der Richtschnur der Vernunft abweicht;

b) weil er sich schändlichen Ergotzlichkeiten überläßt. Darum sagt Aristoteles (7 Ethic. 8.): „Die Unenthaltsamkeit wird getadelt nicht nur als Sünde (weil sie von der Vernunft sich entfernt), sondern auch als Bosheit“ (weil sie schlechten Begierlichkeiten folgt). 2. Die Unenthaltsamkeit wird manchmal danach im allgemeinen bemessen, daß jemand von dem, was gemäß der Vernunft ist, abweicht. Es ist dann nicht von ihr schlechthin die Rede. So kann man unenthaltsam sein mit Rücksicht auf Reichtum und Ehre, wie oben von der Enthaltsamkeit gesagt worden ist. Und dann ist Sünde die Unenthaltsamkeit, nur deshalb weil einer das Maß der Vernunft im Streben nach etwas nicht einhält; nicht weil er an sich schlechten Begierden folgt. 3. Die Unenthaltsamkeit wird manchmal ausgesagt nach Weise des Ähnlichen und nicht im eigentlichen Sinne; so von der Begierde nach dem, wovon man nicht schlechten Gebrauch machen kann, wie von der Begierde nach Tugenden. Denn wie der wahrhaft unenthaltsame durchaus und vollauf geführt wird durch die schlechte Begierde, so wird der in dieser Weise nach Tugenden strebende durchaus und ohne weitere Rücksicht geführt durch die gute Begierde. Eine solche Unenthaltsamkeit ist keine Sünde, sondern Tugend und zwar vollendete Tugend.

c) I. Der Mensch kann das Böse nicht meiden und das Gute nicht thun ohne göttlichen Gnadenbeistand, nach Joh. 15.: „Ohne mich könnt ihr nichts thun.“ Dadurch wird also nicht ausgeschlossen, daß die Unenthaltsamkeit Sünde ist; denn „was wir durch Freunde können, das können wir selbst.“ (3 Ethic. 3.) II. Daß im unenthaltsamen das Urteil der Vernunft besiegt wird, kommt von der Schwäche des Widerstandes her. III. Das ist die Unenthaltsamkeit im letzterwähnten Sinne; auf Grund nämlich einer Ähnlichkeit.

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