Vierter Artikel. Der sich im Zorne nicht halten kann, ist an und für sich nicht so schlimm wie der in der Begierlichkeit unenthaltsam ist.
a) Das scheint nicht. Denn: I. Je schwerer es ist, der Leidenschaft zu widerstehen, desto leichtere Sünde ist die Unenthaltsamkeit, so daß Aristoteles (2 Ethic. 7.) sagt: „Wer durch überaus starke Grgötzungen oder Traurigkeiten besiegt wird, dem ist zu verzeihen.“ „Der Begierde aber zu widerstehen ist,“ so Heraklit, „schwerer wie dem Zorne Widerstand zu leisten.“ II. Wer seiner Vernunft mehr mächtig ist, der ist schuldiger beim Sündigen als jener, der seines vernünftigen Urteils beinahe verlustig geht infolge der Heftigkeit der Leidenschaft. Mehr aber bleibt an vernünftigem Urteile in dem, der sich im Zorne nicht halten kann, als in jenem, der in der Begierde unenthaltsam ist. Denn „der begierliche hört nicht auf die Vernunft, wohl aber in etwa der zornige,“ heißt es 7 Eethic. 6. III. Eine Sünde ist um so schwerer, je gefahrvoller sie ist. Gefahrvoller aber ist die Unenthaltsamkeit im Zorne wie die in der Begierde. Denn erstere führt zum Totschlage, letztere zum Ehebruche; der Totschlag aber ist eine schwerere Sünde wie der Ehebruch. Auf der anderen Seite heißt es 7 Ethic. 7.: „Weniger schimpflich ist die Unenthaltsamkeit im Zorne wie die in der Begierde.“
b) Ich antworte; 1. von seiten der Leidenschaft, infolge deren die Stimme der Vernunft übertönt wird, betrachtet, sei die Unenthaltsamkeit in der Begierde aus vier Gründen schlechter wie die im Zorne:
a) weil die leidenschaftliche Bewegung des Zornes in etwa an der Vernunft teilhat, denn der zornige will sich rächen, wie einigermaßen die Vernunft es anordnet; wenn auch die Teilnahme der Vernunft keine vollendete ist, da das gebührende Maß in der Rache nicht eingehalten wird; — dagegen ist die Bewegung der Begierde ganz und gar eine sinnliche und in keiner Weise gemäß der Vernunft; —
b) weil die Bewegung des Zornes in höherem Grade der körperlichen Komplexion folgt auf Grund der Schnelligkeit in der Beweglichkeit des betreffenden humor, welcher zum Zorne drängt; deshalb ist der zum Zorne geneigte schneller im Zorne wie der zur Begierlichkeit geneigte begehrt und ebenso werden darum aus zornmütigen öfter zornmütige geboren wie aus begehrlichen begehrliche; was aber in der körperlichen Komplexion seinen. Grund hat. verdient mehr Nachsicht; —
c) weil der Zorn sucht, offen vor allen thätig zu sein; die Begierde aber das Dunkel sucht, um einzudringen; —
d) weil der begehrliche mit Ergötzen wirkt; der zornige aber wie durch die vorausgehende Betrübnis gezwungen. 2. Von seiten des entstehenden Schadens aber betrachtet, ist der im Zorne unenthalsame zumeist ausgesetzt, größeren Schaden zu stiften wie der im Begehren unenthaltsame.
c) I. Schwerer ist es, beständig gegen das Ergötzen anzukämpfen wie gegen den Zorn, denn das Ergötzen ist andauernder; wenn auch für den Augenblick die Zornesbewegung eine stürmischere ist und somit für den Augenblick ihr zu widerstehen schwieriger ist. II. Die Begierde ist ohne Vernunft; nicht weil sie das gesunde Urteil der Vernunft gänzlich hinwegnimmt, sondern weil sie in nichts gemäß dem Urteile der Vernunft vorgeht. III. Die Gefahr des Nachteils für den Nächsten ist beim Zorne größer wie die bei der Begierde.
