Vierter Artikel. Die Milde und Sanftmut sind nicht die vorzüglichsten Tugenden.
a) Trotzdem scheint dies. Denn: I. Das Lob der Tugend besteht darin, daß sie den Menschen zur Seligkeit bezieht, welche die Kenntnis Gottes ist. Die Sanftmut aber lenkt den Menschen im höchsten Grade zur Kenntnis Gottes; denn Jakob. 1. heißt es: „In Sanftmut nehmet auf das hineingesäete Wort;“ und Ekkli. 5.: „Sei sanftmütig, wenn du das Wort Gottes hören willst;“ ebenso sagt Dionysius (ep. 8.): „Wegen seiner großen Sanftmut ward Moses würdig befunden, daß ihm Gott erschien.“ Also. II. Eine Tugend steht um so höher, je mehr sie von Gott und den Menschen hochgehalten wird. Die Sanstmut ist aber im höchsten Grade Gott wohlgefällig, nach Ekkli. 1.: „Ein Wohlgefallen vor Gott ist Treue und Sanftmut;“ und Christus selbst sagt: „Lernet von mir, wie ich sanftmütig bin und demütig von Herzen.“ Hilarius schreibt im selben Sinne (4. in Matth.): „Auf Grund der Sanftmut unseres Geistes wohnt Christus in unseren Herzen.“ Auch von den Menschen ist die Sanftmut im höchsten Grade hochgehalten, nach Ekkli. 3.: „Mein Sohn, in Sanftmut vollende deine Werke und über den Ruhm der Menschen hinaus wirst du geliebt werden;“ und nach Prov. 20.: „Durch die Milde wird der Thron der Könige gestärkt.“ Also sind Sanftmut und Milde die hauptsächlichsten Tugenden. III. Augustin sagt (1. de serm. Dom. in monte 2.): „Sanftmütig sind jene, welche Beleidigungen gegenüber nachgiebig sind und nicht vom Bösen überwunden werden, sondern im Guten das Böse überwinden.“ Das gehört aber zur Barmherzigkeit und Hingebung oder Pietät, welche die hauptsächlichste Tugend ist, nach Paulus (1. Tim. 4.): „Die Pietät ist zu Allem nütze,“ wozu Ambrosius bemerkt: „Der Inbegriff der christlichen Religion ist die pietas.“ Auf der anderen Seite werden die Milde und Sanftmut als Nebentugenden bezeichnet.
b) Ich antworte, Milde und Sanftmut können nicht schlechthin die hauptsächlichsten Tugenden sein; denn ihr Vorzug besteht darin, daß vom Bösen abziehen, wogegen es vollkommener ist, das Gute zu erreichen und somit nach dem Guten zu streben. Jene Tugenden also, welche schlechthin auf das Gute sich richten, wie Glaube, Hoffnung, Liebe, Gerechtigkeit, Klugheit, sind größere Tugenden. Milde und Sanftmut haben jedoch einen gewissen Vorrang nach einer gewissen Seite hin; nämlich unter den Tugenden, welche den schlechten Neigungen widerstehen. Denn der Zorn, welchen ja die Sanftmut mäßigt, hindert wegen seines Anstürmens im höchsten Grade den Geist, daß er frei nach der Wahrheit urteilt; und deshalb trägt die Sanftmut im höchsten Grade dazu bei, daß der Mensch seiner mächtig sei. Deshalb heißt es Ekkli. 10.: „Mein Sohn, in der Sanftmut behüte deine Seele.“ Und weil die Milde dadurch daß sie die Strafen mindert im höchsten Grade der heiligen Liebe sich nähert, der schlechthin ersten Haupttugend, wodurch wir das Gute gegenüber den Nächsten thun und das ihnen Nachteilige hindern; so hat auch sie, die Milde, einen gewissen Vorrang, obgleich, weil die Ergötzungen des Tastsinnes die schändlichen und andauernd feindseligsten sind, die Mäßigkeit, welche zu deren Regelung dient, als Haupttugend dasteht.
c) I. Die Sanftmut entfernt das Hindernis für die Erkenntnis Gottes: 1. insoweit sie den Menschen seiner mächtig macht durch Verminderung des Zornes; — 2. insoweit es Sache der Sanftmut ist, daß der Mensch den Worten der Wahrheit nicht widerspreche, was meistenteils infolge zorniger Regungen geschieht. Deshalb sagt Augustin (2. de doctr. christ. c. 7.): „Sanftmütig sein heißt: der heiligen Schrift nicht widersprechen, sei es daß wir sie recht aufgefaßt haben, wenn sie einige unserer Laster zu Boden schlägt, sei es daß wir sie falsch verstanden, als ob wir es besser wissen wollten.“ II. Die Sanftmut und Milde machen Gott und den Menschen wohl gefällig; denn sie tragen mit der heiligen Liebe, der größten der Tugenden, zur nämlichen Wirkung bei, die da ist: Übel vom Nächsten abwenden. III. Die Barmherzigkeit und Hingebung oder Pietät kommen zwar mit der Sanftmut und Milde darin überein, daß sie die nämliche Wirkung haben, nämlich Übel vom Nächsten abzuhalten. Sie sind aber verschieden im Beweggründe. Denn die Hingebung entfernt vom Nächsten das Üble auf Grund der Ehrfurcht vor einem Oberen, z. B. Gott oder die Eltern. Die Barmherzigkeit thut zwar dasselbe; aber weil sie über das Üble im anderen traurig ist und es infolge der Freundschaft wie das der eigenen Person ansieht. Die Sanftmut thut das Gleiche, insoweit sie den Zorn entfernt, der zur Rache reizt; die Milde geht von der Lieblichkeit des Gemütes aus und urteilt, es sei fortan nicht mehr billig, die Strafe fortzusetzen.
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