Zweiter Artikel. Die Klugheit gehört zum thätigen Leben.
a) Dies scheint nicht. Denn: I. Das thätige Leben ist im begehrenden wie das beschauliche im erkennenden Teile des Menschen. Die Klugheit aber hat ihren Sitz nicht im Begehren, sondern im Erkennen. II. Das thätige Leben „sieht minder,“ sagte oben Gregor. Die Klugheit aber will klare Augen. III. Die Klugheit steht in der Mitte zwischen den moralischen Tugenden und denen in der Vernunft. Also gehört sie weder zum thätigen noch zum beschaulichen Leben, sondern zu dem aus beiden gemischten, von welchem Augustin spricht. (19. de civ. Dei 2.) Auf der anderen Seite sagt Aristoteles (10 Ethic. 8.), die Klugheit gehöre zur Glückseligkeit, welche im Thätigsein nach außen hin ihren Zweck hat, also zum thätigen Leben.
b) Ich antworte, was zweckdienlich ist, nehme an jenem Wesenscharakter teil, welcher vom Zwecke ausgeht; wie „jener der stiehlt, um Ehebruch zu verüben, mehr Ehebrecher ist wie Dieb.“ (5 Ethic 2.) Die Klugheit aber dient allen Thätigkeiten der moralischen Tugenden wie einem Zwecke; denn sie ist „der rechte maßgebende Grund für das Thätigsein“ (recta ratio agibilium). Also sind die jeweiligen Zweckrichtungen der moralischen Tugenden die Principien der Klugheit (I. c.). Wie also die moralischen Tugenden in jenem, der sich ihrer zum Zwecke des beschaulichen Lebens bedient, zum beschaulichen Leben gehören; so gehört die Klugheit, welche den Zwecken der moralischen Tugenden dient, zum thätigen Leben. Wird aber die Klugheit im weiteren Sinne genommen, soweit sie jede menschliche Kenntnis umfaßt, so gehört sie mit Rücksicht auf einen Teil in ihr zum beschaulichen Leben; danach spricht Cicero (1. de offic.): „Wer überaus schnell und scharfsinnig das Wahre sehen und erklären kann, der wird als ein im höchsten Grade kluger und weiser angesehen.“
c) I. Die moralischen Thätigkeiten erhalten ihren Wesenscharakter vom Zwecke her. Zum beschaulichen Leben also gehört jene Kenntnis, deren Zweck die Betrachtung der Wahrheit selber ist. Die Klugheit aber, deren Zweck mehr die Thätigkeit des begehrenden Teiles ist, gehört zum thätigen Leben. II. Die nach außen gerichtete Thätigkeit macht, daß der Mensch weniger sieht im Bereiche der reinen Erkenntnis; in den Dingen nämlich, die vom Sichtbaren losgelöst sind, worauf sich ja das thätige Leben richtet. Jedoch macht eine solche nach außen gerichtete Thätigkeit, daß man klarer sieht im Urteilen über das, was zu thun ist; und dies gehört der Klugheit zu sowohl auf Grund der Erfahrung als auf Grund der geistigen Aufmerkfamkeit, da „wo du aufmerkest, da erst das innere Talent sich zeigt,“ sagt Sallust (conjur. Catil.) III. Die Klugheit steht in der Mitte zwischen den beiden genannten Arten Tugenden; weil sie ihren Sitz zwar in der Vernunft hat, ihren Gegenstand aber da, wo ihn auch die moralischen Tugenden haben. Jenes „gemischte Leben“ Augustins jedoch steht in der Mitte zwischen dem beschaulichen und thätigen Leben mit Rücksicht auf die Beschäftigung, weil es sich bald mit der Betrachtung der Wahrheit bald mit äußerer Thätigkeit befaßt.
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