Erster Artikel. Das beschauliche Leben steht an sich höher wie das thätige.
a) Das Gegenteil wird behauptet. Denn: I. „Den besseren kommt Besseres zu.“ (3 Topic. 1.) Den Vorstehern und Oberen aber, welche doch die besseren sind, kommt es zu, dem thätigen Leben sich zu widmen. Also ist dieses besser. II. „Vorschreiben“ kommt bei allen Zuständen und Thätigkeiten dem zu, was voransteht; wie die Kriegskunst vorschreibt der Kunst des Waffenschmiedes. Dem thätigen Leben aber kommt es zu, vorzuschreiben dem beschaulichen, wie Exod. 19. der Herr zu Moses sagt: „Steige herab und beschwöre das Volk, daß es nicht etwa die vorgesetzten Grenzen überschreiten wolle, um Gott zu schauen.“ III. Niemand muß dem Besseren entzogen werden, um dem weniger Guten sich zuzuwenden; denn der Apostel sagt (1. Kor. 13.): „Eifert stets den besseren Gnadengaben nach.“ Manche aber werden dem beschaulichen Leben entzogen, um dem thätigen Leben sich zu widmen; wie jene, welche zu Vorgesetzten ernannt werden. Also ist das thätige Leben besser wie das beschauliche. Auf der anderen Seite „hat Maria“ nach den Worten des Herrn „den besten Teil erwählt.“ Unter Maria aber versteht man das beschauliche Leben.
b) Ich antworte, das beschauliche Leben sei schlechthin besser wie das thätige; wenn auch mit Rücksicht auf besondere Fälle dieses bisweilen vorzuziehen ist. Dafür werden (10 Ethic. 7.) acht Gründe angeführt: 1. Das beschauliche Leben kommt dem Menschen zu gemäß dem Besten, was im Menschen ist, nämlich nach der Vernunft und gemäß den besten Gegenständen; — während das thätige Leben sich mit den äußeren vergänglichen Dingen befaßt. Deshalb stellt Rachel, was bedeutet „das geschaute Princip“, das beschauliche Leben vor; Lia aber, welche blöden Auges war, das thätige Leben. 2. Das beschauliche Leben ist an sich mehr andauernd, wenn es auch nicht immer auf der höchsten Spitze der Betrachtung verbleibt; und danach „saß Maria“ d. i. das beschauliche Leben, „beständig zu den Füßen des Herrn.“ . 3. Die Wonne und das Ergötzen des beschaulichen Lebens ist größer, weshalb Augustin sagt (de verb. Dom. serm. 26.): „Martha war verwirrt, Maria dagegen beim Gastmahle.“ 4. Das beschauliche Leben ist für sich allein mehr ausreichend, es hat weniger Bedürfnisse; weshalb der Herr sagt: „Martha, Martha, du verwirrst dich um vielerlei Dinge und bist bekümmert.“ 5. Das beschauliche Leben wird mehr um seiner selbst willen geliebt; das thätige um Anderes willen. Deshalb heißt es im Ps. 26.: „Eine Bitte habe ich an den Herrn gestellt; sie werde ich erlangen, daß ich wohne im Hause Gottes alle Tage meines Lebens und schaue die Freude des Herrn.“ 6. Das beschauliche Leben besteht in einer gewissen Muße und Ruhe: „Ruhet aus und sehet, daß ich der Herr bin.“ (Ps. 45.) 7. Das beschauliche Leben ähnelt mehr Gott; weshalb Augustin (de verb. Dom. 27.) sagt: „Im Anfange war das Wort: Siehe, was Maria hörte. Das Wort ist Fleisch geworden: Siehe, wem Martha diente.“ 8. Das beschauliche Leben ist mehr dem Menschen als solchem eigen, nämlich insoweit er eine vernünftige Seele hat; während an den Thätigkeiten des thätigen Lebens auch die niederen Kräfte, in denen wir mit den Tieren übereinkommen, Anteil haben. Deshalb fügt Ps. 35, nachdem er gesagt: „Menschen und Tiere wirst Du retten, Herr,“ hinzu das, was den Menschen allein eigen ist: „In Deinem Lichte werden wir Licht sehen.“ Den neunten Grund fügt der Herr selbst hinzu: „Den besten Teil hat Maria erwählt, der nicht wird von ihr genommen werden.“ Augustin bemerkt dazu: „Du hast keinen schlechten Teil erwählt, diese aber einen besseren. Höre, warum besser: Er wird nicht von ihr genommen werden: Von dir wird einst genommen werden die Last der Notwendigkeit; ewig ist die Süßigkeit der Wahrheit.“ Erfordern es aber die Bedürfnisse des Lebens, so kann das thätige Leben besser sein. „Besser ist es,“ bemerkt Aristoteles (3 Topic. 2.), „zu philosophieren als um Geld zu arbeiten; um Geld arbeiten aber ist besser für den, der notleidet.“
c) I. Die Vorsteher der Kirche müssen auch im beschaulichen Leben hervorragend sein. Deshalb sagt Gregor (Past. part. 2. cap. l.): „Sei der Vorsteher in vorzüglichem Maße thätig, mehr als alle aber in der Betrachtung beständig.“ II. Das beschauliche Leben besteht in einer gewissen Freiheit des Geistes. Denn Gregor sagt (hom. 3. in Ezech.): „Das beschauliche Leben schreitet hindurch bis zu einer gewissen Freiheit des Geistes, nicht an das Zeitliche denkend, sondern auf das Ewige gerichtet.“ Und Boëtius (5. de Consol. 3.): „Der menschliche Geist ist notwendig freier, wenn er sich im Forschen nach Göttlichem aufhält, als wenn er zu Körperlichem hinabsteigt.“ Nicht also direkt oder unmittelbar schreibt das thätige Leben dem beschaulichen vor, sondern insoweit es zum beschaulichen Leben hin vorbereitet, schreibt es einige Thätigkeiten des beschaulichen Lebens vor, worin es diesem viel mehr dient, als es beherrscht. Somit sagt Gregor (in Ezech. l. c.) mit Recht: „Das thätige Leben wird Knechtschaft, das beschauliche Freiheit genannt.“ III. Wegen der Bedürfnisse des irdischen Lebens muß manchmal jemand das Beschauen unterlassen; aber dies findet nicht so statt, daß er es gänzlich aufgäbe. Deshalb sagt Augustin (19. de civ. Dei 5.): „Die heilige Ruhe sucht die Liebe der Wahrheit; die rechtmäßige Mühe, nämlich des thätigen Lebens, nimmt auf sich die Notwendigkeit, welche von der Liebe geboten wird. Legt diese Last niemand auf, so muß man seine Muße benutzen, um die Wahrheit zu erfassen und zu betrachten; — wird diese Last aufgelegt, so muß sie getragen werden um der Notwendigkeit willen der Liebe. Nicht aber so darf man die Wonne an der Wahrheit verlassen, daß gänzlich die Süßigkeit entzogen werde und die Last allein drücke.“ Wird also jemand vom beschaulichen zum thätigen Leben hinübergenommen, so wird dadurch nicht etwas entzogen, sondern etwas hinzugefügt.
