Erster Artikel. Der Mensch kann die Seligkeit erreichen.
a) Dagegen läßt sich geltend machen: I. Wie die vernünftige Natur über der sinnbegabten steht, so ist die reine Vernunft, welche durch bloßes Schauen erkennt, über der Vernunft, welche dadurch erkennt, daß sie von einem auf das andere schließt; wie aus Dionysius (de div. nom. c. 4, 5, 6 etc.) hervorgeht. Die Tiere aber, die ja nur die sinnliche Natur haben, können nicht den Zweck der vernünftigen menschlichen Natur erreichen. Also kann auch der Mensch, der nur eine vermöge des Schließens vom einen zum anderen erkennende Vernunft hat, nicht den Zweck der ganz und rein vernünftigen Natur, er kann nicht die Seligkeit erreichen. II. Die Seligkeit besteht in der Anschauung Gottes, der reinenWahrheit. Der Natur des Menschen aber entspricht es, daß er die Wahrheit schaue, soweit sie in den stofflichen Dingen sich findet; weshalb er auch die geistigen Ideen in den vor ihm liegenden Phantasiebildern liest. Also kann er nicht zur Seligkeit gelangen. III. Die Seligkeit besteht im Erlangen des höchsten Gutes. Es kann aber jemand nicht zu einem höchsten Punkte gelangen, wenn er nicht das dazwischenliegende Mittlere übersteigt. Da also zwischen Gott und der Menschnatur in der Mitte liegt die Engelnatur, welche der Mensch nicht übersteigen kann, so ist es dem Menschen nicht möglich, die Seligkeit zu erreichen. Auf der anderen Seite sagt der Psalmist (93.): „Selig der Mann, den Du erziehst, o Herr.“
b) Ich antworte, daß die Seligkeit nichts Anderes bezeichnet wie die Erreichung des vollendeten Guten. Wer also fähig ist, das vollendete Gute zu besitzen, kann zur Seligkeit gelangen. Daß nun der Mensch fähig ist, das vollendete Gute zu besitzen, erscheint daraus, daß seine Vernunft das Gute im allgemeinen und somit das vollendete Gut erfassen, und daß sein Wille es begehren kann. Also kann der Mensch die Seligkeit erreichen. Zudem erhellt das Nämliche daraus, daß der Mensch der Anschauung des göttlichen Wesens fähig ist, wie I. Kap. 12, Art. 1 nachgewiesen worden. In dieser Anschauung aber besteht die Seligkeit.
c) I. In anderer Weise überragt die im allgemeinen vernünftige Natur die nur sinnbegabte, wie die rein geistige oder rein vernünftige Natur überragt die erstere, nämlich die mit Vernunft nur begabte, im übrigen körperliche Natur. Denn die mit Vernunft nur begabte, im übrigen körperliche Natur überragt die rein sinnliche mit Rücksicht auf den Erkenntnisgegenstand; da der Sinn keineswegs das Allgemeine zu erkennen vermag, während die schließende Vernunft dies kann. Die rein und ganz vernünftige Natur aber überragt die nur allgemein mit Vernunft begabte Natur nicht im Erkenntnisgegenstande, sondern allein in der Art und Weise, die Vernunftwahrheit zu erkennen; weil die erstere sogleich und unmittelbar die Wahrheit erfaßt, während die an zweiter Stelle genannte dadurch zur Wahrheit vordringt, daß sie nach dem Grunde fragt. Das Nämliche also, was die reine Vernunft erfaßt, zu dessen Kenntnis gelangt auch die vermittelst des Grundes schließende Vernunft. In anderer Weise gelangt sonach der Mensch zur Seligkeit wie der Engel, aber er gelangt zur selben Seligkeit. Denn der Engel hat gleich nach seiner Erschaffung die Seligkeit erlangt; der Mensch aber erreicht sie im Verlaufe einer gewissen Zeit. Die sinnliche Natur jedoch kann für sich allein betrachtet die Seligkeit gar nicht erlangen. II. Für das gegenwärtige Leben entspricht es der Natur des Menschen, vermittelst von Phantasiebildern die Wahrheit zu erkennen; nach diesem Leben ist eine andere Erkenntnisweise seiner Natur entsprechend. III. Was seine Natur anbelangt, so kann der Mensch nicht die Engel übersteigen, daß seine Natur etwa höher wäre wie die der Engel. Er kann sie aber übersteigen kraft der Thätigkeit seiner Vernunft, so daß er erkennt, es gäbe etwas Höheres wie die Engel, was die Menschen beseligt und, erreicht er es, so werde er selig sein.
