Zweiter Artikel. Das sinnliche Begehren bewegt den Willen.
a) Das Gegenteil scheint wahr. Denn: I. Nach Augustin (12. sup. Gen. ad litt. 16.) ist das Bestimmende und Bewegende, also das Einwirkende, höher stehend, wie das Bestimmbare und Leidende. Das sinnliche Begehren aber steht niedriger wie der vernünftige Wille. Also. II. Keine beschränkte Kraft hat eine unbeschränkte Wirkung zur Folge. Also kann das sinnliche Begehren, was da einer sinnlichen, beschränkten Auffassung folgt, nicht verursachen die Willensbewegung, die unmittelbar auf das Unbeschränkte geht und der Auffassung des Allgemeinen folgt. III. Der Wille bewegt das Sinnenbegehren, insoweit dieses der Vernunft folgt. Also bewegt das Sinnenbegehren nicht den Willen, da nichts. Bewegendes bewegt wird von dem, was es in Bewegung setzt. Auf der anderen Seite heißt es Jakob. 1.: „Ein jeglicher wird versucht, von seiner Begierlichkeit angezogen und verführt.“ Es würde aber niemand von seiner Begierlichkeit angezogen und verführt werden, wenn nicht sein Wille bewegt wäre von dem sinnlichen Begehren, in welchem die Begierlichkeit sich findet.
b) Ich antworte, daß, wie gesagt worden, was da als gut und zukömmlich aufgefaßt wird, den Willen bewegt nach der Weise des Gegenstandes, indem es nämlich zur Abgrenzung und besonderen Gestaltung des Willensaktes beiträgt; nicht indem es den Willen vom Subjekte aus in Thätigkeit setzt, daß er, nachdem er unthätig war, nun in Thätigkeit tritt. Daß aber ein Gegenstand als gut und zukömmlich jemandem vorkommt, das rührt von zwei Seiten her: nämlich von der Beschaffenheit des vorgelegten Gegenstandes und von der Beschaffenheit dessen, dem er vorgelegt wird. Denn „zukömmlich“ wird etwas genannt gemäß der Beziehung und hängt somit von den beiden Beziehungspunkten ab. So z. B. kommt dem Geschmacke des einen das Nämliche zukömmlich vor, was dem Geschmacke des anderen widersteht; und Aristoteles sagt im allgemeinen: „Wie beschaffen jemand ist, demgemäß erscheint ihm sein Zweck.“ Nun ist es aber offenbar, daß gemäß dem Eindrucke, den dieBegehrkraft erhält, der Mensch eine Änderung in seiner Beschaffenheit erfährt; und demnach erscheint dem Menschen, der unter dem Einflüsse einer sinnlichen Leidenschaft steht, Manches als zukömmlich, was ihm, wenn dieser Einfluß nicht mehr da ist, nicht so erscheint. Dem Zornmütigen z. B. erscheint etwas als gut, was ihm, wenn er zur Ruhe gekommen, nicht so vorkommt. Danach also, von seiten des Gegenstandes, bewegt und bestimmt das sinnliche Begehren den Willen.
c) I. Dem steht kein Hindernis entgegen, daß dasjenige, was einfach an sich betrachtet höher steht, in einer gewissen Beziehung schwächer erscheint. So ist der Wille wohl an sich erhabener wie das Begehren der Sinne; insoweit jedoch jemand unter der Herrschaft sinnlicher Leidenschaften steht, ragt höher hervor das sinnliche Begehren. II. Die Handlungen und die Auswahl der Menschen richten sich auf die einzelnen besonderen Dinge und Verhältnisse. Deshalb also eben gerade weil die sinnliche Begehrkraft eine beschränkte ist, die gemäß der Auffassung der Einzelheiten als solcher, wie sie der Sinn vorstellt, in Wirksamkeit sich findet, deshalb hat dieses Begehren einen großen Einfluß, daß dadurch der Mensch in einer ganz gewissen, bestimmten Weise disponiert wird und somit etwas unter den einzelnen Dingen und Verhältnissen ihm so oder anders erscheine. III. Die Vernunft, in welcher der Wille ja sich findet, setzt durch ihren Befehl in Thätigkeit die Widerstands- und die Begehrkraft des sinnlichen Teiles; nicht zwar in despotischer Weise, wie der Knecht vom Herrn Befehle empfängt, sondern wie ein freier Mann regiert wird, der auch gegen das Befohlene angehen kann. Somit können die Begehr- und Widerstandskraft den Willen gegen die Bestimmung der Vernunft manchmal bewegen.
