1.
Schon in den wenigen Worten, bei denen wir heute morgen verweilten, offenbarte sich uns eine solche Gedankentiefe, daß wir vom Nachfolgenden1 überhaupt absehen möchten2. Denn wenn der Vorhof des Heiligtums derartig ist und die Vorhallen des Tempels so preiswert und herrlich sind, daß sie durch ihre unermeßliche Schönheit unser geistiges Auge blenden, wie wird dann erst das Allerheiligsle sein! Wer wird imstande sein, sich ins Innere vorzuwagen? Wer wird das Geheimnisvolle schauen wollen? Unzugänglich ist ja schon dessen Schauplatz, unerklärlich vollends der Sinn des Wahrgenommenen. Indes, da man beim gerechten Richter schon für den bloßen Willen, seine Pflicht zu tun, einen nicht zu verachtenden Lohn empfängt, so wollen wir mit der Nachforschung nicht säumen. Sind wir auch der Aufgabe nicht gewachsen, so wird uns der Richter doch nicht ganz unbrauchbar finden, wenn wir mit Hilfe des Geistes vom Sinn der Schrift nicht abweichen, und wir werden mit dem Beistande der Gnade doch etwas zur Erbauung der Kirche beitragen.
„Aber die Erde war”, heißt es, „unsichtbar und ungestaltet3.” Wie? Beide, Himmel und Erde, sind zugleich geworden, der Himmel ward vollendet, die Erde aber ist noch unvollendet und unfertig? Überhaupt, worin lag das Unfertige der Erde? Aus welchem Grund war sie unsichtbar? Die vollkommene Gestaltung der Erde liegt doch in ihrer Fruchtbarkeit: im Sprossen verschiedenartiger Pflanzen, im Wachsen sehr hoher fruchtbarer und unfruchtbarer Bäume, in der Farbenpracht und im Wohlgeruch der Blumen, und in allem, was bald hernach auf Gottes Geheiß der Erde entsproßte, um die Erzeugerin zu zieren. Solange von all dem noch S. 26 nichts da war, nannte die Schrift mit Recht die Erde „ungestaltet”. Dasselbe möchten wir aber auch vom Himmel sagen: Auch er war noch nicht fertig und hatte seinen eigentlichen Schmuck noch nicht, da er von Mond und Sonne noch nicht durchleuchtet war, noch kein Reigen von Sternen ihn umkränzte4. Diese waren ja noch nicht ins Dasein getreten, und so wirst du nicht gegen die Wahrheit verstoßen, wenn du auch den Himmel ungestaltet nennst. - „Unsichtbar” aber nannte Moses die Erde aus zwei Gründen: entweder weil der Mensch, der sie schauen sollte, noch nicht existierte, oder weil sie unter dem Wasser, das ihre Oberfläche überflutete, nicht gesehen werden konnte. Denn noch waren ja die Gewässer nicht in ihre Sammelbecken geleitet, die Gott erst später schuf und Meere nannte. Was ist also unsichtbar? Doch das, was von Natur unserem fleischlichen Auge nicht sichtbar, wie unser Verstand, dann aber auch das, was seiner Natur nach wohl sichtbar ist, aber wegen der auf dem Körper liegenden Schicht verborgen liegt, wie z. B. das Eisen in der Meerestiefe. In letzterem Sinne ist unseres Erachtens hier die Erde „unsichtbar” genannt worden, da sie unter dem Wasser verborgen war. Da sodann das Licht noch nicht geworden war, so wäre es gar nicht auffallend, wenn die Erde, die in Finsternis lag, solange die Luft über ihr noch nicht erleuchtet war, auch in dieser Hinsicht von der Schrift wäre „unsichtbar” genannt worden.
