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Allein die Fälscher der Wahrheit, die sich nicht von der Schrift belehren lassen wollen, sondern den Sinn der Schriften nach ihrem eigenen Kopf verdrehen, sagen, mit diesen Worten werde die Materie bezeichnet. Diese ist, behaupten sie, ihrer Natur nach unsichtbar und ungestaltet, an sich eigenschaftslos und darum ohne jede Form und Gestalt. Diese nahm der Künstler und gestaltete sie nach seiner Weisheit und bildete so aus ihr die sichtbaren Dinge. Ist nun aber die Materie ungeworden1, so steht sie erstens Gott gleich und S. 27 verdient dieselbe Verehrung. Was ist aber gottloser als die eigenschaftslose, gestaltlose Materie, den Gipfel der Formlosigkeit, den Ausbund der Häßlichkeit - ich bediene mich nämlich ihrer eigenen Bezeichnungen - derselben Ehrenstellung zu würdigen wie den weisen, mächtigen und allschönen Schöpfer des Weltalls? Ist sodann die Materie so groß, daß sie die ganze Erkenntnis Gottes in sich faßt, so spielen sie damit deren Substanz gewissermaßen gegen die unerforschliche Macht Gottes aus; vermag sie doch Gottes ganze Weisheit von sich aus zu messen! Ist aber die Materie für die Einwirkung Gottes zu geringfügig, so werden diese ihre Worte zu einer noch tolleren Blasphemie ausschlagen, weil sie Gott wegen Mangelhaftigkeit der Materie seine eigenen Werke nicht schaffen und wirken lassen. Doch nein, die Dürftigkeit der menschlichen Natur hat sie getäuscht. Bei uns ist ja jede Kunst auf einen bestimmten Stoff angewiesen, wie z. B. die Schmiedekunst auf das Eisen, die Schreinerkunst auf das Holz. In diesen Kunstwerken ist aber etwas anderes der Stoff, etwas anderes die Form und wieder etwas anderes das Gebilde der Form. Auch ist der Stoff von außen her genommen, die Form aber wird (ihm) von der Kunst angepaßt, und das Produkt aus beidem besteht aus Stoff und Form2. So glauben sie auch die göttliche Schöpfung erklären zu sollen: die Gestalt der Welt wäre von der Weisheit des Weltenschöpfers gekommen, die Materie aber von außen her dem Schöpfer dargeboten und die Welt so zusammengesetzt worden; so hätte die Welt Substrat und Substanz anderswoher, Gestalt und Form aber von Gott erhalten. Daraus versteht sich ihre Leugnung, der große Gott sei Herr des Entstehens der Dinge, und ihre Behauptung, er habe sozusagen nur beigesteuert, von sich aus nur einen geringen Teil zur Entstehung der Dinge beigetragen.
Bei ihrer geistigen Beschränktheit waren sie ja. nicht imstande, zur Höhe der Wahrheit emporzuschauen, S. 28 daß nämlich hier die Künste erst nach den Stoffen, und zwar zur Befriedigung notwendiger Lebensbedürfnisse eingeführt worden sind. So war zuerst die Wolle da, und die Webekunst folgte nach, um ihrerseits das Bedürfnis der Natur zu befriedigen. Auch das Holz war da, und die Kunst, es zu bearbeiten, folgte nach und formte den Stoff entsprechend dem jeweiligen Bedürfnis. So zeigte sie uns die Verwertbarkeit des Holzes, indem sie den Schiffern das Ruder, den Landleuten die Wurfschaufel und den Soldaten den Speer in die Hand gab. Gott aber hat, ehe die jetzt sichtbaren Dinge wurden, in dem Augenblicke, da er sich entschloß und sich daran machte, das Nichtseiende ins Dasein zu rufen, und zugleich erwog, wie die Welt gestaltet sein sollte, mit der Form zugleich auch die ihr entsprechende Materie geschaffen. Für den Himmel bestimmte er den für den Himmel passenden Stoff, und der Gestalt der Erde legte er die ihr eigentümliche und nötige Substanz zugrunde. Auch Feuer, Wasser und Luft bildete er, wie er wollte, und ließ die Dinge ins Dasein treten, wie es die Bestimmung eines jeden erheischte. Die ganze aus so verschiedenen Teilen bestehende Welt verband er durch ein unzerreißbares Band der Freundschaft zu einer einzigen Gemeinschaft und Harmonie, so daß selbst die örtlich zuweitest voneinander geschiedenen Dinge in Eintracht vereint zu sein scheinen. So mögen sie denn ablassen von ihren traumhaften Einbildungen, sie, die mit ihrer schwachen Vernunft die unserem Verstande unfaßbare und menschlicher Zunge ganz unaussprechliche Macht ausmessen wollen.
. Stiegele, Der Agennesiebegriff in der griech. Theologie des 4. Jhd., Freiburg i.B., 1913
