4.
S. 30 „Aber auch Finsternis”, sagt er, „lag über dem Abgrunde1.” - Wieder neuer Anlaß zu Fabeln und Anstoß zu noch gottloseren Hirngespinsten bei denen, die diese Worte nach ihren Ideen verdrehen. Denn die Finsternis erklären sie nicht für das, was sie von Natur aus ist, für lichtlose Luft, oder für einen durch einen vorgelagerten Körper verfinsterten Raum, oder überhaupt für einen aus irgendwelcher Ursache des Lichtes beraubten Ort, sondern für eine böse Macht oder vielmehr für das Böse selbst, aus sich selbst geboren; für einen Gegner und Feind der Güte Gottes erklären sie die Finsternis. Denn wenn Gott das Licht ist2, sagen sie, so muß logisch folgerichtig die ihm widerstreitende Macht offenbar die Finsternis sein. Die Finsternis danke keinem andern das Dasein, sondern sei das aus sich selbst geborne Böse. Die Finsternis sei Feindin der Seelen, Todbringerin, Tugendgegnerin, habe ihre Existenz und sei nicht von Gott ausgegangen - so schließen sie zu Unrecht aus den Worten des Propheten. Was ist nicht daraus schon alles an verkehrten und gottlosen Lehren zusammenfabriziert worden! Welche reißenden Wölfe, die die Herde Gottes zerreißen3, haben nicht schon dieses kurze Wort zum Anlaß genommen, die Seelen anzufallen! Kommen nicht daher Leute wie Marcion4, wie Valentin5, die abscheuliche Häresie der Manichäer6, die man S. 31 die Fäulnis der Kirche nennen darf, ohne den Anstand zu verletzen! Was kehrst du, Mensch, dich so weit von der Wahrheit ab und ersinnst dir Mittel und Wege zu deinem Verderben? Einfach und allgemein verständlich ist doch der Ausdruck: „Die Erde war unsichtbar.” Was ist die Ursache? Sie hatte den Abgrund über sich. Was heißt aber „Abgrund”? Eine Wassermasse, deren Tiefe nicht zu ergründen ist. Allein wir wissen, daß viele Körper auch durch das dünnere und durchsichtige Wasser sichtbar werden. Warum war nun kein Teil der Erde durch das Wasser hindurch sichtbar? Weil die darüber ausgegossene Luft noch finster und dunkel war. Denn ein Sonnenstrahl, der durch das Wasser dringt, zeigt oft die Steinchen in der Tiefe; aber in tiefer Nacht kann man die Gegenstände unter dem Wasser überhaupt nicht sehen. Deshalb steht bei dem Ausdruck: „Die Erde war unsichtbar und ungestaltet” der begründende Zusatz: „Der Abgrund lag darüber, und sie war verfinstert.” Der Abgrund ist also weder eine Menge widerstreitender Kräfte, wie einige sich eingebildet haben, noch ist die Finsternis eine ursprüngliche und böse Macht, die dem Guten widerstrebt. Denn zwei mit gleicher Kraft gegeneinander ankämpfende Dinge vernichten jedenfalls gegenseitig ihren Bestand, da sie ja ständig und unaufhörlich miteinander in Fehde liegen. Wenn aber die eine der feindlichen Kräfte mächtiger ist als die andere, so wird die unterliegende ganz und gar vernichtet. Wenn sie also das Böse mit ebenbürtiger Kraft gegen das Gute ankämpfen lassen, dann führen sie einen ewigen Krieg und unaufhörlichen Vernichtungskampf ein, indem beide abwechselnd siegen und besiegt werden. Hat aber das Gute die Übermacht, warum ist dann die Natur des Bösen nicht gänzlich beseitigt? Soll man aber das nicht sagen, dann fällt mir auf, daß sie nicht S. 32 vor sich selbst fliehen und zu solch gottlosen Lästerungen sich fortreißen lassen.
Es entspricht aber wahrlich auch nicht der Gottesfurcht, das Böse von Gott herzuleiten7, da aus Gegensätzlichem nichts Gegensätzliches kommen kann. Es gebiert doch das Leben nicht den Tod, und die Finsternis ist doch nicht Quelle des Lichtes, sowenig wie Krankheit Gesundheit schaffen kann; vielmehr tritt ein Umschlag der Dinge ins Gegenteil infolge veränderter Zustände ein. Bei den Zeugungen aber geht jede Geburt nicht aus Entgegengesetztem, sondern aus Gleichartigem hervor. Wenn nun das Böse, entgegnen sie, weder ungezeugt ist noch von Gott kommt, woher hat es dann seine Existenz? Denn daß Böses existiert, wird keiner leugnen, der das Leben mitmacht. Was antworten wir nun? Daß das Böse keine lebende, beseelte Substanz ist, sondern ein der Tugend entgegengesetzter Seelenzustand, der bei Leichtfertigen schuld ihres Abfalls vom Guten eintritt.
Gen 1,2 ↩
1 Joh 1,5 ↩
Apg 20,29 ↩
Marcion, zu Sinope in Pontus geboren, kam um 140 nach Rom, und als seine Anschauungen von der Kirche zurückgewiesen wurden, stiftete er, an den Gnostiker Cerdo sieh anschließend, die gnostische Sekte der Marcioniten, wie sie gewöhnlich heißen. Der Schöpfungsbericht wurde von Marcion dualistisch gedeutet mit der Annahme eines ewig-guten Schöpfer-Gottes und einer ewig-bösen Materie (cfr. Theodoret, haereticorum fabulae I, 24). ↩
Valentin, nach des Irenäus Bericht (adv. haereses I,11) etwa 135 von Alexandrien nach Rom gekommen und nach Epiphanius (haer. XXXI,7) auf Cypern gestorben, begründete gleichfalls ein gnostisches System mit einer dualistischen Welterklärung und reich entwickelten Aeonenlehre ↩
Manichäus (bei den Lateinern) oder Manes (bei den Griechen) oder Mani (bei den Persern) stiftete im 8. Jahrhundert eine Sekte, die mit ihrer starken Verbreitung im Osten und Westen der christlichen Kirche sehr gefährlich wurde. Das manichäische Religionssystem ist noch schroffer dualistisch als das gnostische, stellt scharf ein ewig-gutes Prinzip dem ewig-bösen, das Reich des Lichts dem Reiche der Finsternis gegenüber, und seine Ethik wirkte korrumpierend. ↩
Mit dieser Ansicht belastet Plutarch (c. Stoicos) die Stoiker, obschon letztere solche nicht ausdrücklich bekannt haben. ↩
