4.
Auch wir haben von Natur die Tugenden, zu denen die Seele nicht auf Grund menschlicher Belehrung, sondern von Natur sich hingezogen fühlt. Wie kein Unterricht uns die Krankheit hassen lehrt, vielmehr wir schon einen natürlichen Widerwillen vor allem Schmerzlichen haben, so hat auch die Seele eine nicht bloß anerlernte Abneigung gegen das Böse. Jedes Böse ist eine Krankheit der Seele, Tugend aber bedeutet Gesundheit. Treffend haben ja einige Gesundheit als das Wohlbefinden der natürlichen Kräfte definiert. Wer daher auch das Wohlbefinden der Seele so1 nennt, wird nicht fehlgehen. Daher verlangt die Seele nach dem, was ihr angemessen ist, von Natur aus, nicht auf Grund von Belehrung. Deshalb scheint allen lobenswert die Keuschheit, S. 146 empfehlenswert die Gerechtigkeit, bewundernswert der Mut, begehrenswert die Klugheit. Diese Tugenden gehören noch wesentlicher zur Seele als zum Leibe die Gesundheit. Ihr Kinder, liebet die Eltern2! „Ihr Eltern, reizt eure Kinder nicht zum Zorne3!” Sagt dies nicht auch die Natur? Nichts Neues verlangt Paulus, er zieht nur die Bande der Natur straffer an. Wenn die Löwin ihre Jungen liebt und der Wolf für seine Jungen kämpft, was will dann der Mensch sagen, der das Gebot überhört und die Natur verzerrt, wenn z. B. ein Sohn seinen greisen Vater nicht ehrt, oder der Vater infolge einer zweiten Ehe die Kinder aus erster Ehe vergißt? Unbegreiflich groß ist bei den Tieren die gegenseitige Liebe der Eltern und Jungen, weil Gott, ihr Schöpfer, den Mangel an Vernunft durch ein Übermaß sinnlicher Gefühle ersetzt hat. Woher kommt es denn, daß das Lamm, das aus dem Stalle hüpft, unter tausend Schafen sogar Farbe und Stimme seiner Mutter erkennt, zu ihr eilt und seine Milchquellen sucht? Und selbst wenn es das Euter seiner Mutter fast leer findet, so gibt es sich mit ihm zufrieden und springt an vielen strotzenden und vollen Eutern vorbei. Und woher kennt die Mutter unter tausend Lämmern ihr eigenes? Die Stimme ist eine, die Farbe dieselbe, der Geruch bei allen gleich, soweit unser Geruchsinn zu urteilen vermag; aber gleichwohl haben sie einen Sinn, der schärfer ist, als wir zu beurteilen vermögen, (einen Sinn,) mit dem jedes das seinige zu unterscheiden vermag. Solange der junge Hund noch keine Zähne hat, verteidigt er sich mit dem Maule gegen seinen Angreifer. Noch hat das Kalb keine Hörner und weiß doch, wo ihm seine Waffen wachsen werden. Das beweist, daß keine (Tier-)Natur einer Belehrung bedarf, daß in der Kreatur nichts ungeordnet und zwecklos ist, sondern alle Geschöpfe die Spuren der Weisheit des Schöpfers an sich tragen und an sich zeigen, daß sie mit den Mitteln zum Schütze ihrer eigenen Wohlfahrt versehen geschaffen worden sind. - Hat der Hund auch keinen Verstand, so hat er doch den Sinn, der ihm den S. 147 gleichen Dienst tut wie der Verstand. Was die Weltweisen nach langen Jahren des Studiums kaum gefunden haben, nämlich die Kettenschlüsse, das weiß, wie man sieht, der Hund, nur von der Natur belehrt. Wenn er nämlich ein Wild aufspürt und dabei auf verschiedene Fährten stößt, dann den überallhin führenden Spuren nachgeht, so spricht er doch mit solchem Verhalten nur den Syllogismus aus: „Das Wild hat sich dahin oder dorthin oder nach einer dritten Seite hin gewendet; aber es ist weder dahin noch dorthin gelaufen; folglich muß es nach dieser Seite hin gelaufen sein.” So findet er nach Ablehnung des Unrichtigen das Richtige. Was leisten die mehr, die gravitätisch vor mathematischen Aufgaben sitzen, Linien in den Sand zeichnen, von drei Annahmen zwei verwerfen und in der restierenden die Wahrheit finden4? - Wo ist sodann der gegen Wohltäter Undankbare, den nicht dieses Tieres stete Dankbarkeit für empfangene Wohltaten beschämt? Man erzählt ja von vielen Hunden, daß sie bei ihren ermordeten Herren an einsamem Orte starben5. Ja, bei frischer Missetat wurden Hunde schon Wegweiser beim Fahnden nach den Mördern und bewirkten so, daß die Missetäter zur Strafe gezogen wurden. Was wollen die dazu sagen, die den Herrn, ihren Schöpfer und Ernährer, nicht bloß nicht lieben, sondern die zu Freunden haben, die gegen Gott lästern, mit solchen sogar am gleichen Tische sitzen und selbst während der Mahlzeit die Lästerungen gegen den Ernährer dulden?
nämlich: Gesundheit. - Hier klingt die Lehre der Stoiker durch; vgl. Cicero, de fin. III,7,26, und de nat. deorum I. 14; vgl. auch Horaz, Ep. I, X, 12 ↩
vgl. Eph 6,1 ↩
Eph 6,4; Kol 3,21.22 ↩
vgl. dazu (Ps.-)Plutarch 1. c. 726 ↩
(Ps.-) Plutarch (b01. c.) nennt mehrere solche berühmt gewordene Beispiele von Hundetreue ↩
