1.
Wer Keuschheit übt, erkennt sehr leicht die Größe des Adels, der ihr eigen ist; so stark ist ihre Macht, daß sie auch ihren Gegnern verehrungswürdig wird.1 Sie ist es, die den Grundlagen der Menschheit Festigkeit gewährt; 2 sie ist es, die für alle Gefühle schon in der Be- S. 92 Zeichnung die Eigenart zum Ausdruck bringt; sie ist es, die die geheiligten Rechte der Eltern, der Gatten, der Kinder schützt; sie ist es, die bei beiden Geschlechtern glänzend in Erscheinung tritt, die in jedem Lebensalter der Bewunderung wert ist, die in keiner Lebenslage eine Unsicherheit kennt, die nur sich selbst getreu bleibt, die allezeit ein gutes Gewissen hat, die schlechthin von allem unabhängig ist und nur eine Furcht kennt: sie könnte das nicht mehr in Wirklichkeit sein, als was sie gilt.3 In der Einsamkeit, die von Ehebrechern als Gelegenheit bezeichnet wird, fürchtet sie sich selbst als Richter; vor jeder Heimlichtuerei hat sie mehr Scheu als vor der Öffentlichkeit. Sie haßt die unheilvollen Lockungen des Fleisches, in dem sie den Feind sieht; und was ihr die Welt als Genuß oder Gunst bietet, lehnt sie völlig ab in der Voraussetzung, daß sie alles hat, wenn sie rein ist. Sie trägt nach niemanden unreines Verlangen; aber sie sucht auch in niemanden solches für sich zu wecken. Sie bleibt sich gleich an jedem Ort und zu jeder Zeit, mehr bedacht auf ihre Ehrbarkeit als auf ihren Vorteil. Und wollt ihr wissen, worin ihr Glück besteht? Es liebt sie der, der sie hat — und es liebt sie der, der sie nicht hat. Und wenn so oftmals sogar die Heiden sie hoch preisen — freilich verdienstvoll oder auch nur echt kann sie bei ihnen nicht sein, weil sie dabei unter der Herrschaft des unzüchtigen Räubers steht —, um wie viel mehr muß sie in Ehren stehen beim Volk der Christen, das dem Gott dient, der ihr unverletzliche Heiligkeit verleiht? Denn wenn die Kirche deshalb die Braut Christi ist, weil sie keusch ist; wenn ihr deshalb die Ehre der Verbindung zur himmlischen Ehe zuteil ward, weil sie auch nach der Ehe allezeit Jungfrau bleibt: so müssen doch wir, die wir dieser herrlichen Verbindung entstammen, mit aller Kraft darnach streben, den Adel dieser unserer Abstammung nicht nur durch den Hinweis auf S. 93 diese Beziehung, sondern auch durch treue Ähnlichkeit nachzuweisen. Mit Stolz sage ich es, geliebteste Brüder, daß bei euch die Bejahung solchen Strebens, und zwar ganz unzweifelhaft, in glänzende Erscheinung tritt; ihr zeigt, daß ihr Gott zum Vater habt und ihn für immer haben wollt, indem ihr die Keuschheit, in der Gott wohnt, — ich möchte nicht nur sagen: liebet, sondern sie verherrlicht durch eure trefflichen Sitten. Es ist ein großer Ruhm, das zu verherrlichen, wodurch man selbst verherrlicht wird, das zu bewahren, wodurch man selbst bewahrt wird. Ja, schließlich kommt das euch gezollte Lob dem Lob der Keuschheit gleich: sie verleiht euch Heiligkeit, ihr schenkt ihr Liebe. Durch sie kommt ihr in Verbindung mit Christus: oder vielmehr sie hält durch euch und mit euch Christus umfangen. Durch sie erlangt ihr von Gott dem Vater, um was ihr bittet; oder vielmehr sie, für die ihr unverdrossen arbeitet, erreicht es durch euch, daß sie keine Beschämung zu ertragen braucht, wenn sie mit einer Bitte kommt. Selig zu preisen ist sie, wenn sie schon beim spielenden Kinde sich bemerkbar macht; seliger noch, wenn sie in der heranwachsenden Jugend mit Erfolg Furcht vor dem Falle weckt; am seligsten, wenn sie in den Menschen jugendlicher Vollkraft die Begierden des Fleisches zu ersticken vermag. Sie ist auch beim Greis noch zu ehren, freilich nicht mehr so auffällig zu finden; denn wenn sie auch siegreich bleibt, so muß sie doch ihre Siegespalme mit der Kälte des Alters teilen; der Kampf der Begierlichkeit tritt zurück, wenn unter dem Druck der sich mehrenden Krankheiten auch Glieder von Unzüchtigen keusch werden.4
Man denkt hier an die Heiden, die zwar die Keuschheit im christlichen Sinn nicht kannten, sie wenigstens in der Form des Zölibates zum Teil bekämpften, aber doch die Pudicitia in Tempeln (Pudicitia patricia, Pudicitia plebeja) verehrten, auch die vestalischen Jungfrauen hochschätzten. Vgl. Lactantius, Div. instit. I, 21, 26: apud Romanos vero eundem (a seil um Priapi) Vestalibus sacris in honorem pudicitiae conservatae paribus coronari. Ambros, De virgin. I, 4, 15. ↩
Gemeint ist die eheliche Keuschheit. ↩
Nach der Lesart der Ballerini: Ne sit amplius, quae vocatur (Giuliari: Ne sit amplius quam vocetur.) ↩
Nach der Lesart der Ballerini: fiunt (Giuliari: sunt) membra. ↩
