Zweiter Artikel. Die Vernunft kann gegen das, was sie weiß, von der Leidenschaft überwältigt werden.
a) Dagegen wird geltend gemacht: I. Das Stärkere wird nicht überwältigt vom Schwächeren. Die Wissenschaft aber ist wegen ihrer Zuverlässigkeit das Stärkste in uns. Also kann sie von der Leidenschaft nicht überwältigt werden. II. Der Wille hat zum Gegenstande nur das wahrhaft oder das scheinbar Gute. Zieht nun die Leidenschaft den Willen zum wahrhaft Guten, so ist dies nicht gegen die Wissenschaft in der Vernunft. Zieht sie zum scheinbar Guten, so scheint eben der Vernunft das betreffende Gut ein wahres zu sein. Also keinesfalls überwältigt die Leidenschaft den vernünftigen, wissenden Teil. III. Man soll nun nicht sagen, die Leidenschaft ziehe in der Weise die Vernunft nach sich, daß diese wohl den allgemeinen richtigen Grundsatz festhalte, das Gegenteil aber davon urteile im besonderen Falle. Denn ist ein allgemeiner Satz entgegengesetzt einem besonderen, so entsteht da ein Gegensatz wie Ja und Nein: z. B. jeder Mensch — und nicht jeder Mensch. Dieser kontradiktorische Gegensatz aber ist zugleich ein konträrer, wenn es sich um zwei Meinungen handelt, nach 2 Perih. ult. Weiß also jemand etwas mit Zuverlässigkeit im allgemeinen und urteilt er gegenteilig im besonderen einzelnen Falle, so hätte er zugleich zwei sich konträr gegenüberstehende Meinungen; was unmöglich ist. IV. Wer etwas im allgemeinen weiß, der weiß auch das Besondere, was gemäß seiner Kenntnis darunter enthalten ist; wie wenn jemand weiß, jede Mauleselin sei unfruchtbar und erkennt, dies sei eine Mauleselin, auch zugleich weiß, diese Mauleselin sei unfruchtbar. (1. Poster.) Wer also weiß etwas im allgemeinen, wie daß Unkeuschheit zu vermeiden sei; der weiß es auch im besonderen Falle, daß dieser unkeusche Akt, wofern er nur kennt, daß es ein unkeuscher Akt sei, vermieden werden müsse. Und so kann von der Leidenschaft nicht die Vernunft mit ihrer Wissenschaft überwältigt werden. V. „Die Worte sind Zeichen des geistigen Verständnisses.“ (1. Perih.) Der Mensch aber inmitten seiner Leidenschaft bekennt oft, das was er auswähle sei ein Übel, auch in diesem besonderen Falle. Also hat er auch für den besonderen Fall Wissen. Die Leidenschaft also kann die Vernunft nicht mit sich ziehen, daß dieselbe im allgemeinen Wissenschaft habe und im besonderen Falle das Gegenteil davon für richtig ansehe. Auf der anderen Seite heißt es Röm. 7, 23.: „Ich sehe ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das da widerstreitet dem Gesetze meines vernünftigen Geistes und mich gefangen nimmt im Gesetze der Sünde.“ Das Gesetz aber in den Gliedern ist die Begierlichkeit, von welcher der Apostel vorher gesprochen hatte. Da also die Begierlichkeit eine Leidenschaft ist, so scheint die, Leidenschaft die Vernunft nach sich ziehen zu können gegen das, was die Vernunft weiß.
b) Ich antworte; Sokrates meinte, die Wissenschaft könne niemals von der Leidenschaft überwunden werden, so daß er alle Tugenden für Wissenschaften ansah und alle Sünden für Unwissenheit. Darin nun hatte er recht, daß der Wille nimmer sich auf einen Gegenstand richtet, den nicht die Vernunft irgendwie als ein Gut vorstellt. Damit also der Wille auf das Schlechte sich richte, muß immer irgendwie ein Irrtum oder eine Unkenntnis der Vernunft vorhanden sein. „Es irren die da Übel thun“, heißt es deshalb Prov. 14. Jedoch die Erfahrung lehrt, daß viele gegen das handeln, wovon sie sichere Wissenschaft haben. Und Luk. 12. wird dies bestätigt: „Der Knecht“, so der Herr selbst, „welcher kennt den Willen seines Gebieters und ihn nicht thut, wird um so härter bestraft werden;“ ebenso Jakob. 4.: „Für denjenigen, der da weiß, wie er das Gute thun soll, und es trotzdem nicht thut, ist dies Sünde.“ Deshalb ist die Meinung des Sokrates nicht so schlechthin wahr. Es muß nach 7 Ethic. 3. unterschieden werden. Da nämlich der Mensch, um recht zu handeln, durch eine doppelte Art Wissen geleitet wird, durch die Kenntnis des Allgemeinen nämlich und die des Besonderen, Einzelnen; so kann auf beide Weisen ein Mangel eintreten, der die Geradheit des Willens hindert. Denn es trifft sich, daß jemand im allgemeinen weiß, nichts Unkeusches sei zu thun, jedoch im einzelnen Falle nicht weiß, dieser Akt, der ein unkeuscher ist, sei nicht zu thun; — und das genügt, damit der Wille nicht der allgemeinen Wissenschaft der Vernunft folge. Und zudem steht dem nichts entgegen, daß etwas gewußt werde dem Zustande nach, was thatsächlich nicht in Erwägung gezogen wird. Es kann jemand also etwas recht wissen, auch für den einzelnen Fall, was er jedoch thatsächlich nicht in Erwägung zieht; und so kann leicht gehandelt werden gegen das, was man thatsächlich nicht erwägt. Daß nun der Mensch thatsächlich nicht erwägt im besonderen Falle, was er gemäß dem inneren Zustande in ihm weiß, das rührt manchmal rein aus dem Mangel einer bestimmten Absicht her; wie wenn jemand die Schlußfolgerungen der Geometrie wohl kennt, jedoch sie für den Augenblick nicht beachten will. Bisweilen aber erwägt der Mensch das nicht, was er weiß, weil ein Hindernis dazu getreten ist; z. B. wegen einer Arbeit oder wegen Krankheit. Und in dieser letzten Weise hindert die Leidenschaft den Menschen, daß er das nicht im besonderen Falle thatsächlich erwäge, was er wohl im allgemeinen weiß. Dieses Hindernis nun tritt in dreifacher Weise auf: 1. Auf Grund einer gewissen Zerstreuung der Seelenkräfte, die ja alle in der einen Wesenheit der Seele wurzeln. (Vgl. Art. 1, ur. l.) 2. Auf Grund des Gegensatzes, weil die Leidenschaft meist zum Gegenteile dessen hinneigt, was die Wissenschaft im allgemeinen in sich schließt. 3. Auf Grund einer gewissen körperlichen Veränderung, wodurch vermöge der Einbildungskraft die Vernunft gewissermaßen gebunden wird, daß sie nicht frei ihre Thätigkeit entfalte; wie der Schlaf und die Trunkenheit den Gebrauch der Vernunft bindet. Und daß dies von den Leidenschaften aus geschieht, ist darin offenbar, daß, wenn die Leidenschaften recht angespannt sind, der Mensch den Gebrauch der Vernunft gänzlich verliert; wie viele wegen Überflusses von Liebe und Zorn wahnsinnig geworden sind. Demgemäß nun zieht die Leidenschaft die Vernunft nach sich, daß sie im besonderen Falle urteile gegensätzlich zu dem, was sie im allgemeinen weiß.
c) I. Die höchste Zuverlässigkeit hat die Wissenschaft des Allgemeinen. Aber nicht sie ,sondern die Wissenschaft, die auf das Besondere geht, nimmt den ersten leitenden Platz ein für die menschliche Thätigkeit; da alle menschliche Thätigkeit sich mit Einzelheiten, mit dem Besonderen beschäftigt. Daher ist es nicht wunderbar, wenn bei dergleichen Thätigsein die Leidenschaft antreibt und handelt gegen die Wissenschaft des Allgemeinen, wenn nämlich die Erwägung des Besonderen gar nicht vorhanden ist. II. Dies eben, daß im besonderen Falle etwas der Vernunft als ein Gut vorkommt, was kein Gut ist, rührt vom Einflüsse der Leidenschaft her. Und eben dieses Urteil für den besonderen Fall richtet sich gegen das Urteil gemäß den allgemeinen Grundsätzen. III. Es kann nicht vorkommen, daß jemand zu gleicher Zeit in sich hat die wahre Meinung oder Wissenschaft rücksichtlich eines allgemeinen Satzes, der bejaht und rücksichtlich des entsprechenden besonderen Satzes, der verneint; oder umgekehrt. Wohl aber trifft es sich, daß jemand dem Zustande nach die wahre Meinung besitzt rücksichtlich des allgemeinen Satzes, der bejaht, und daß er thatsächlich eine falsche Meinung hat rücksichtlich eines entsprechenden besonderen Satzes, der verneint. Denn das Thatsächliche steht entgegen dem Thatsächlichen; nicht einem Zustande. IV. Die Leidenschaft hindert dies gerade, daß jener, der Wissen hat im allgemeinen, nicht regelrecht herabsteige zum Besonderen und so zum Schlüsse gelange. Vielmehr wird dann ein anderer allgemeiner Satz genommen, den die Leidenschaft an die Hand giebt; und mit dessen Hilfe kommt man zum Schlüsse. Deshalb sagt Aristoteles (7 Ethic 3.): „Der Syllogismus des Unenthaltsamen hat zwei allgemeine Sätze und zwei besondere, aufs Einzelne gehende. Der eine allgemeine Satz gehört der Vernunft an: es sei keine Unkeuschheit zu begehen; der andere kommt von der Leidenschaft: man müsse sich ergötzen. Die Leidenschaft nun bindet die Vernunft, daß diese nicht aus dem ersten Satze regelrecht weiter schließe; und während dieser erste Satz noch da ist, nimmt sie den zweiten und gelangt zum Schlusse. V. Wie der Trunkene manchmal Worte sagen kann, welche tiefe Aussprüche bezeichnen, und doch letztere nicht zu beurteilen vermag, da die Trunkenheit dies verbietet; so kann der von der Leidenschaft Beherrschte mit dem Munde sagen, dies sei nicht zu thun, und fühlt trotzdem innerlich das Gegenteil, nämlich daß es zu thun sei.
