Sechster Artikel. Wegen der Leidenschaft wird die Sünde leichter.
a) Dies scheint nicht. Denn: I. Wird die Ursache verstärkt, so geschieht dies auch mit der Wirkung; wenn z. B. etwas Warmes auflöst, so löst etwas Wärmeres in höherem Grade auf. Die Leidenschaft aber ist Ursache der Sünde. Also je heftiger sie ist, desto größer ist die Sünde. II. Die gute Leidenschaft vermehrt das Verdienst; denn wer mit mehr Barmherzigkeit giebt, der verdient mehr. Also verstärkt die schlechte die Sündenschuld. III. Je bereitwilliger der Wille ist, desto größer die Sünde. Die Leidenschaft aber vermehrt die Bereitwilligkeit des Willens; denn sie treibt den Willen heftiger an. Also verstärkt sie die Sünde. Auf der anderen Seite heißt die Leidenschaft der Begierlichkeit selber: „Versuchung des Fleisches.“ Je größer aber die Versuchung, desto minder ist die Sünde dessen, der ihr unterliegt nach 14. de civ. Dei 12.
b) Ich antworte, die Sünde bestehe in erster Linie in der freien Thätigkeit, welche dem Willen und der Vernunft zugehört. Die Leidenschaft nun des sinnlichen Begehrens kann der freien Thätigkeit vorhergehen oder ihr folgen. Sie geht vorher, wenn sie den Willen oder die Vernunft (vgl. Art. 1 u. 2; und Kap. 10, Art. 3) nach sich zieht oder zu etwas hinneigt. Sie folgt, insofern die Thätigkeiten der höheren Kräfte, wenn sie stark sind, überfließen in die niederen Kräfte. Denn der Wille kann nicht angestrengt auf etwas sich richten, ohne daß irgend eine Leidenschaft im sinnlichen Begehren erweckt wird. Geht sie also der Sünde vorher, so muß sie die Sünde vermindern. Denn die Sünde ist insoweit freiwillig als sie in uns, d. h. in unserer Gewalt ist. In uns oder in unserer Gewalt aber ist etwas nur vermittelst der Vernunft und des Willens. Wenn also Vernunft und Wille etwas von sich aus thun ohne den Antrieb zu erhalten von der Leidenschaft, so ist dies in höherem Grade freiwillig. Und danach mindert die Leidenschaft die Sünde, weil sie den Charakter des Freiwilligen mindert. Die nachfolgende Leidenschaft aber ist das Zeichen der Größe der Sünde, insofern sie zeigt, welch große Kraft der Sünde innewohnte. Und so ist es wahr, daß je größer die Begierde ist, mit der jemand sündigt, er um so mehr sündigt.
c) I. Die Leidenschaft ist Ursache der Sünde von seiten der Zuwendung zum vergänglichen Gute. Die Schwere der Sünde aber wird bemessen vielmehr von seiten der Abkehr vom letzten Endzwecke, die zufällig, d. h. ohne Absicht, aus der Zuwendung zum zeitlichen Gute folgt. Ursachen aber, die in dieser Weise, zufällig und absichtslos, vermehrt werden, verstärken nicht die Wirkung; dies thun nur die Ursachen, die ihrem Wesen nach, d. h. an und für sich Ursachen sind. II. Die gute Leidenschaft, welche dem Urteile der Vernunft folgt, vermehrt das Verdienst; geht sie vorher, so daß der Mensch mehr infolge der Leidenschaft als infolge des vernünftigen Urteiles gut handelt, so mindert die Leidenschaft das Verdienst. III. Die Bewegung des Willens, die von der Leidenschaft her angeregt worden, ist, wenn sie auch stark erscheint, doch nicht in dem Grade dem Willen wahrhaft eigen als wenn der Wille nur durch die Vernunft zum Wirken gebracht wird.
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