Fünfter Artikel. Zulässigerweise stellt man als Ursachen der Sünde auf: die Begierlichkeit der Augen, die Begierlichkeit des Fleisches und die Hoffart des Lebens.
a) Es scheint dies durchaus unzulässig. Denn: I. Der Apostel sagt 1. Tim. ult.: „Die Wurzel aller Übel ist die Geldgier,“ die unter der Hoffart des Lebens nicht enthalten ist. II. Die Begierlichkeit des Fleisches kommt meist von der Begierlichkeit der Augen. „Die schöne Gestalt hat dich getäuscht“ heißt es nämlich Dan. 13. Also dürfen diese beiden nicht gleichberechtigt als Ursachen nebeneinander gestellt werden. III. Die Begierlichkeit ist das Begehren nach Ergötzlichem. Aber nicht nur mit Rücksicht auf die Augen giebt es Ergötzliches, sondern auch rücksichtlich der anderen Sinne. Also ist die Einteilung ungenügend. IV. Infolge ungeregelter Flucht vor dem Übel wird der Mensch ebenfalls zur Sünde verleitet. Alles aber, was da in dieser Einteilung steht, bezieht sich auf das Begehren nach Gutem. Auf der anderen Seite steht der Text bei 1. Joh. 2.: „Alles, was in der Welt sich findet, ist Begierlichkeit des Fleisches, Begierlichkeit der Augen und Hoffart des Lebens.“ „In der Welt“ findet sich aber etwas wegen der Sünde; weshalb im selben Sinne gesagt wird (l. c.): „Die ganze Welt liegt im Bösen.“ Also die drei genannten Ursachen erstrecken sich auf alle Sünden.
b) Ich antworte, die ungeregelte Liebe zu sich selbst, also die ungeordnete Begier nach Gutem für sich selbst sei, wie oben gesagt, die Ursache aller Sünde. Das Gute aber ist Gegenstand des sinnlichen Begehrens, also der Leidenschaften, in zweifacher Weise: 1. schlechthin, insofern es Gegenstand der Begehrkraft ist; — 2. unter dem Gesichtspunkte des schwer Erreichbaren, insofern es Gegenstand der Abwehrkraft ist. Nun ist eine doppelte Begierlichkeit: die eine ist mit der Natur selber gegeben; sie erstreckt sich auf das, wodurch der Körper unterhalten wird, sei es rücksichtlich des Einzelwesens, wie auf Speise und Trank, oder sei es rücksichtlich der Erhaltung der Gattung, wie auf das Geschlechtliche; — die ungeregelte Begierde danach heißt Begierlichkeit des Fleisches. Die andere Begierlichkeit umfaßt das Ergötzliche, nicht insofern es durch die äußeren Sinne aufgefaßt bereits angenehm berührt oder zur Erhaltung des Körpers dient; sondern insoweit es ergötzlich ist gemäß der Auffassung von seiten der Einbildungskraft oder eines ähnlichen inneren Sinnes, wie z. B. Geld, Kleiderschmuck u. dgl.; — und die Begierde danach heißt die Begierlichkeit der Augen, sei es daß damit die Augen allein gemeint find und somit die Beziehung zur Neugierde gegeben ist, nach Augustin (10. Conf. 30.), sei es daß damit alle die Dinge gemeint sind, die von außen her dem Menschen vermittelst der Augen vorgestellt werden, wie andere es erklären. Das Begehren nun nach dem schwer Erreichbaren gehört der Hoffart des Lebens; denn Hoffart richtet sich in ungeregelter Weise auf etwas Hervorragendes. Diese drei Ursachen also erstrecken sich auf alle Leidenschaften, welche ja die Sünde veranlassen. Denn die beiden ersten umfassen die Leidenschaften der Begehrkraft, die dritte umfaßt die Leidenschaften der Abwehrkraft; und diese teilt sich nicht in zwei, weil diese Art Leidenschaften immer entspricht der mit den inneren Sinnen gegebenen Begierlichkeit, nicht der mit der Natur bereits gegebenen.
c) I. In welcher Weise die Geldgier die Wurzel aller Sünden ist, wird unten gesagt werden (Kap. 84). II. Die Begierlichkeit der Augen umfaßt hier nur jene Dinge, in welchen nicht das Ergötzen des Fleisches gesucht wird, das gemäß dem Tastsinne sich vollzieht; sondern das Ergötzen des Auges d. h. der innerlich auffassenden Kraft. III. Der Gesichtssinn ist der hauptsächlichste unter allen; und deshalb wird sein Name übertragen auf alle anderen Sinne, auch auf die inneren. IV. Die Flucht vor dem Übel ist begründet im Begehren nach Gutem; es genügen also die hier genannten Ursachen.
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