Siebenter Artikel. Die Leidenschaft entschuldigt nicht ganz und gar von der Sünde.
a) Das Gegenteil wird so dargelegt: I. Was die Ursache des Unfreiwilligen ist, das entschuldigt von der Sünde. Gal. 5. aber heißt es: „Das Fleisch begehrt gegen den Geist, daß ihr nicht das thuet, was ihr wollt.“ Also verursacht die Begierlichkeit das Unfreiwillige. II. Die Leidenschaft verursacht Unkenntnis für den besonderen Fall. Diese aber (nach Kap. 76, Art. 3) entschuldigt ganz und gar von Sünde. III. Die Schwäche der Seele hat mehr Bedeutung wie die des Körpers. Letztere aber entschuldigt ganz und gar von Sünde, wie bei den Wahnsinnigen zu sehen ist. Auf der anderen Seite nennt Paulus (Röm. 7.) „Leidenschaften der Sünden“ die Leidenschaften nur deshalb, weil sie Ursache der Sünde sind. Also entschuldigen sie nicht ganz und gar von Sünde.
b) Ich antworte; nimmt die Leidenschaft ganz und gar das Freiwillige fort, so nimmt sie auch den Charakter der Sünde ganz und gar hinweg. Dabei ist zweierlei zu erwägen: 1. Daß etwas an sich freiwillig ist, wenn der Wille unmittelbar sich darauf richtet; daß es aber nur gemäß der Ursache freiwillig ist, wenn der Wille nur auf die Ursache sich richtet und nicht auf die Wirkung, wie z. B. wenn jemand freiwillig sich betrinkt; denn dann wird ihm gewissermaßen als freiwillig angerechnet, was er vermöge der Trunkenheit begeht; — 2. daß etwas direkt freiwillig ist, insofern der Wille darauf selber sich richtet; und daß es indirekt freiwillig ist, insofern der Wille verhindern konnte, aber nicht hindert. Demgemäß nun muß man so sagen. Ist die Leidenschaft so groß, daß sie ganz den Gebrauch der Vernunft entfernt; so wird der kraft ihrer begangene Akt als Sünde angerechnet, insofern die Leidenschaft selber im Anfange gewollt war und somitt der betreffende Akt in seiner Ursache freiwillig ist, wie eben von der Trunkenheit gesagt worden. Insofern aber die Leidenschaft nicht freiwillig d. h. nicht gewollt war, ist auch der entsprechende Akt vollständig schuldfrei. Hebt jedoch die Leidenschaft nicht gänzlich den Gebrauch der Vernunft auf, so kann letztere die Leidenschaft entweder ganz ausschließen, indem sie an Anderes denkt, oder es wenigstens hindern, daß sie ihre Wirkung habe; denn die Glieder werden erst der Thätigkeit zugewandt durch die Zustimmung der Vernunft. Solche Leidenschaft also entschuldigt nicht ganz von Sünde.
c) I. Das kann bezogen werden auf die äußere Thätigkeit oder auf die innere Bewegung der Begierlichkeit; denn der Mensch will niemals begehren das Übel als solches, wie ähnlich erklärt wird das: „Was ich hasse, das Übel, das thue ich.“ Oder es kann bezogen werden auf den der Leidenschaft vorhergehenden Willen; denn der Unkeusche handelt gegen seinen früheren Vorsatz. II. Die Unkenntnis im besonderen Falle, welche entschuldigt, ist jene, die einen Umstand betrifft, den man, auch bei angewandter Sorgfalt, nicht wissen konnte. Die Leidenschaft aber verursacht die Unkenntnis des leitenden Princips des Rechts; insofern sie hindert die Anwendung des allgemeinen Princips, welches man weiß, auf den einzelnen Fall. III. Die Schwäche des Körpers ist unfreiwillig. Der Fall wäre aber ein ähnlicher, wenn die körperliche Schwäche freiwillig wäre, wie oben bei der Trunkenheit gesagt worden.
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