Zweiter Artikel. Die rechte Mitte in der Tausch- und in der verteilenden Gerechtigkeit.
a) Diese rechte Mitte ist die nämliche für beide. Denn: I. Beide Gattungen sind enthalten in der „besonderen“ oder Privatgerechtigkeit. Diese aber kann gleichwie die Mäßigkeit und Stärke nur eine rechte und maßgebende Mitte haben. II. Der Wesenscharakter der Tugend besteht gemäß der rechten Mitte, welche nach der Vernunft bestimmt wird. Da also eine einige Tugend nur ein einiges Wesen in sich schließt, so ist in beiden Arten Gerechtigkeit nur eine rechte Mitte. III. Die verteilende Gerechtigkeit beachtet ihre rechte Mitte gemäß der Stellung und der Würde der Personen. Letztere aber wird auch in der Tauschgerechtigkeit berücksichtigt; denn mehr wird gestraft z. B. wer den Fürsten mißhandelt als wer einer Privatperson dasselbe gethan hat. Auf der anderen Seite sagt Aristoteles (5 Ethic. 3.): „In der zuteilenden Gerechtigkeit nimmt man die rechte Mitte gemäß der geometrischen Proportion; in der Tauschgerechtigkeit gemäß der arithmetischen.“
b) Ich antworte, in der verteilenden Gerechtigkeit wird einer Privatperson etwas gegeben, insoweit was dem Ganzen gehört dem Teile geschuldet ist; und das steht um so höher, eine je vorzüglichere Stellung der betreffende Teil im Ganzen besitzt. Sonach wird in der verteilenden Gerechtigkeit desto mehr jemandem von den gemeinsamen Gütern gegeben, eine je höhere Stellung und je größere Wichtigkeit dieser selbe im Gemeinwesen hat. Diese höhere Stellung wird im aristokratischen Gemeinwesen bemessen nach der Tugend oder dem Talente, im oligarchischen nach dem Reichtume, im demokratischen nach der Freiheit u. s. w. In der verteilenden Gerechtigkeit also wird die rechte Mitte nicht genommen gemäß dem daß ein Ding gleich dem anderen ist, sondern nach dem Verhältnisse der Dinge zu den Personen; nämlich nach diesem Verhältnisse, daß wie die eine Person höher steht als die andere, so auch die Sache, welche der einen Person gegeben wird. Und deshalb sagt hier Aristoteles (5 Ethic. 3.), eine solche rechte Mitte bestehe nach der geometrischen Proportion, wo nämlich das Gleiche nicht nach der Quantität oder dem Umfange berücksichtigt wird, sondern nach einem gewissen Verhältnisse; wie wenn wir sagen: Wie sich sechs zu vier verhält, so verhält sich drei zu zwei. Hier ist das Verhältnis auf beiden Seiten das gleiche, denn um so viel ist sechs größer wie vier als drei größer wie zwei, insoweit das Größere das ganze Mindere einschließt und die Hälfte dieses Ganzen; — es besteht aber keine Gleichheit im Überschusse nach dem Umfange oder der Quantität; denn sechs ist um zwei Einheiten größer als vier, drei aber nur um eine Einheit größer als zwei. Im Tauschhandel dagegen wird einer einzelnen anderen Person etwas gegeben; nicht in Anbetracht der Person, sondern auf Grund der Sache, die dem anderen gehört und welche gefällt; wie das im höchsten Grade klar ist beim Kaufen und Verkaufen, wo zuerst sich findet der Charakter des Tauschens. Und deshalb muß da eine Sache der anderen gleich sein, daß um so viel wie der eine mehr hat als sein ist von dem, was dem anderen gehört, er diesem anderen erstattet. Und so ist da eine „arithmetische“ Mitte, welche berücksichtigt wird nach dem gleichen Überschusse im Umfange; wie z. B. fünf die Mitte hält zwischen vier und sechs, denn um eine Einheit ist fünf geringer wie sechs und mehr wie vier. Wenn also jeder von beiden fünf hat und der eine von ihnen empfängt eines von dem, was dem anderen gehört, so wird dieser eine sechs haben und der andere nur vier. Gerechtigkeit somit wird in diesem Falle geübt werden, wenn die Mitte wiederhergestellt wird und von den sechs des einen der andere eines erhält, so daß beide wieder fünf haben.
c) I. In der Gerechtigkeit ist zum Unterschiede von den anderen Tugenden die rechte Mitte außen in den Dingen; also nach dem Unterschiede, der da, in den Dingen, zu beobachten ist, wird die rechte Mitte angenommen. II. Der allgemeine Wesenscharakter der Gerechtigkeit ist die Gleichmäßigkeit; und darin kommt die Tauschgerechtigkeit überein mit der verteilenden. Diese Gleichmäßigkeit aber wird gefunden bei der einen in der arithmetischen, bei der anderen in der geometrischen Proportion. III. In den Thätigkeiten und Leidenschaften trägt die Stellung der Person bei zur Quantität der Sache. Denn größer ist der einem Fürsten angethaene Schimpf als der an einer Privatperson verübte. Und danach erwägt die verteilende Gerechtigkeit die Stellung und Würde der Person an sich, ihrem Wesen nach; die Tauschgerechtigleit nur, insoweit dadurch ein Unterschied im Werte der Sachen selber hergestellt wird.
