Vierter Artikel. Das Gerechte ist nicht schlechthin dasselbe wie wiedervergoltenes.
a) Dagegen spricht: I. Das göttliche Urteil ist schlechthin gerecht. Also ist es das Vorbild für das unsrige. Nach diesem aber heißt es bei Matth. 7.: „Wie ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; mit welchem Maße ihr einmesset, mit dem wird euch wieder ausgemessen werden.“ Also „Gerecht sein“ heißt ebensoviel wie Wiedervergelten. II. Sowohl in der Tausch- wie in der verteilenden Gerechtigkeit wird jemandem etwas gegeben nach einem gewissen Gleichmaße: in der ersteren Gleiches der Sache nach, in der zweiten Gleiches mit Rücksicht auf die Würde der Person gemäß den Ämtern, in denen jemand dem Gemeinbesten dient. Also wird in beiden etwas vergolten, je nachdem etwas gethan ward. III. Das Unfreiwillige würde am meisten entgegenstehen der Gleichheit im Wiedervergelten; denn wer etwas unfreiwillig unrecht gethan hat, wird minder bestraft. „Freiwillig“ aber und „unfreiwillig“ machen keinen Unterschied für die richtige Mitte, die in der objektiven Sachlage sich findet und nicht in der Beziehung zu uns. Also ist „gerecht“ ebensoviel wie Wiedervergoltenes; oder wie: Gleiches mit Gleichem vergelten. Auf der anderen Seite beweist Aristoteles, nicht jegliches Gerechte sei Wiedervergoltenes.
b) Ich antworte, „Wiedervergoltenes“ besage Gleichheit im Leiden mit Rücksicht auf die vorgehende Thätigkeit; was im eigentlichsten Sinne eintritt bei Beleidigungen gegen die Person des Nächsten, daß z. B. wer gemißhandelt hat, wieder gemißhandelt werde. Dieses Wiedervergeltungsrecht wird im Alten Gesetze ausgedrückt mit den Worten (Exod. 21.): „Er soll bezahlen das Leben mit seinem Leben, Auge für Auge, Zahn für Zahn.“ Und wie das Ansichreißen fremden Gutes auch ein Schaden für die Person des Nächsten ist, so muß, wer dem Nächsten dadurch geschadet hat, ebensoviel Schaden leiden in dem, was ihm gehört. Ferner wird dieses Wiedervergelten auf den freiwilligen Tausch bezogen, wo der eine erhält, der andere giebt; hier aber vermindert der Charakter des Freiwilligen bereits das reine Wiedervergoltene. In allem diesem muß die Vergeltung oder das Entgelt gleich sein dem Gebotenen oder Gethanenen, so daß das Leiden entsprechen muß dem Thätigsein. Diese Gleichheit würde aber verletzt werden: 1. wenn jemand eine höher stehende Person beleidigt hat und es sollte ihm bloß die nämliche Beleidigung zugefügt werden; wer also den Fürsten z. B. gemißhandelt hat, wird von einer weit größeren Strafe getroffen; — 2. wenn jemand den anderen gegen dessen Willen in seinem Besitze beschädigt hat und es sollte ihm bloß die Sache wieder entrissen werden, die er selber weggenommen hat, er würde ja dann, der da den anderen beschädigt hat, in nichts Schaden leiden; dieser also muß mehrfach ersetzen, denn er hat nicht nur eine Privatperson, sondern den Staat beleidigt, dessen Schutzwehr er durchbrochen. Auch in dem freiwillig geschehenden Ein- und Austauschen wäre, wenn jemand seine Sache gäbe und dafür einfach die des anderen erhielte, nicht immer die Gleichheit beobachtet; da letztere vielleicht weit wertvoller ist wie die seinige. Also muß man gemäß einem gewissen Verhältnisse und entsprechenden Maße das Leiden oder Empfangen im Austauschen gleichmachen dem Thätigsein oder Geben; wozu die Münzen erfunden worden sind. Nicht ohne weiteres und schlechthin ist sonach das Wiedervergoltene zugleich das Gerechte, sondern unter gewissen Beschränkungen. In der verteilenden Gerechtigkeit kann jedoch von diesem Grundsatze überhaupt nicht die Rede sein. Denn da wird keine Gleichheit berücksichtigt nach dem Verhältnisse der einen Sache zur anderen oder nach Leiden und Thätigsein, sondern nach dem Verhältnisse der Dinge zu den Personen; da besteht also kein Wiedervergelten im rechtlichen Sinne.
c) I. Das wird verstanden im Sinne der Tauschgerechtigkeit, wonach den Verdiensten Belohnungen gebühren, den Sünden Strafen. II. Wenn jemand für einen dem Staate geleisteten Dienst ein Entgelt oder eine Belohnung erhielte, so würde dies der Tauschgerechtigkeit angehörig sein und nicht der verteilenden. In letzterer besteht nicht die Gleichmäßigkeit zwischen dem, was jemand empfängt, und dem, was er leistet; sondern zwischen dem, der empfängt, zu dem, was ein anderer empfangen hat gemäß der persönlichen Stellung beider.
