Erster Artikel. Dankbarkeit ist eine eigene besondere Tugend.
a) Dem widerspricht: I. Die größten Wohlthaten empfangen wir von Gott und den Eltern. Gott aber geben wir die Ehre durch die Tugend der Religion, den Eltern entgelten wir durch die Tugend der Hingebung. Also ist da kein Platz für eine besondere Tugend der Dankbarkeit. II. Gedankt wird, um etwas zu entgelten. (5 Ethic. 4.) Entgelt aber ist ein Akt der Tauschgerechtigkeit. III. Für Wohlthaten danken ist ebensoviel wie belohnen. Das ist aber der Freundschaft eigen zu ihrer eigenen Erhaltung (8 Ethic. 13) und die Freundschaft bezieht sich auf alle Tugenden, derentwegen der Mensch geliebt wird. Also ist Dankbarkeit keine besondere Tugend. Auf der anderen Seite zählt Cicero (I. c.) die Dankbarkeit unter den Tugenden auf.
b) Ich antworte, je nach den verschiedenen maßgebenden Gründen infolge deren etwas geschuldet wird, müsse der Wesenscharakter der abzutragenden Schuld ein verschiedener sein; so freilich, daß in dem, was in höherem Grade und mit mehr Recht geschuldet wird, immer eingeschlossen ist das in minderem Grade Geschuldete. Im höchsten Grade also schulden wir Gott gegenüber als dem ersten Princip all unserer Güter. Dann sind wir Schuldner des Vaters als dem nächsten unmittelbaren Princip unseres Erzeugtseins und unserer Erziehung; ferner sind wir in der Schuld jener Personen, die mit Würden bekleidet sind, von denen viele gemeinsame Wohlthaten ausgehen; und endlich stehen wir in der Schuld solcher Personen, von denen wir besondere, auf unsere Person berechnete Wohlthaten empfangen haben und denen wir somit in besonderer Weife verpflichtet sind. Da wir also nicht das unseren besonderen Wohlthätern schulden, was Gott oder dem Vater oder den höheren Personen; so kommt nach den Tugenden der Religion, der Pietät, der Hochachtung die der Dankbarkeit und sie wird von diesen anderen Tugenden unterschieden, wie immer was in der Reihe nachher kommt sich unterscheidet vom Vorherstehenden; nämlich nicht an dieses hinanreichend.
c) I. Wie die Religion in hervorragendem Maße die Pietät einschließt, so auch die Dankbarkeit. Gott also gebührt die größte Dankbarkeit. (Kap. 83, Art. 17.) II. Das Entgelten in völlig gleichem Maße gehört zur Tauschgerechtigkeit; daß nämlich nach Übereinkommen so viel für so viel gegeben werde. Die Dankbarkeit aber ist ein freiwilliges Entgelten; sie beruht allein auf der Pflicht der Wohlanständigkeit. „Sie ist minder angenehm, wenn sie gezwungen ist;“ sagt Seneca (de benef. lib. 3. c. 7.) III. Da die wahre Freundschaft auf der Tugend beruht, so hindert alles Jenes die Freundschaft, was der Tugend zuwider ist; und was tugendhaft ist, befördert die Freundschaft. Demgemäß wird dadurch, daß man sich für Wohlthaten erkenntlich zeigt, die Freundschaft bewahrt; obgleich solche Erkenntlichkeit in besonderem Sinne zur Dankbarkeit gehört.
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