Sechster Artikel. Die Dankbarkeit muß mehr zu entgelten suchen als sie empfangen hat.
a) Es scheint, daß sie nichts Größeres darbieten muß. Denn: I. Den Eltern z. B. kann man nicht einmal das Gleiche entgelten. Zu Unmöglichem aber ist niemand gehalten. II. Wer mehr entgilt als er empfangen, giebt eine Wohlthat; und so ist wieder der andere zu Dankbarkeit verpflichtet. Da existierte also kein Ende. III. Die Gerechtigkeit mißt mit gleichem Maße; das „zuviel“ ist immer fehlerhaft. Hier ginge man aber über das entsprechende gleiche Maß hinaus. Auf der anderen Seite heißt es 5 Ethic. 5.: „Wieder Dienste leisten muß man dem, der eine Gnade erwiesen hat und von neuem anfangen mit neuen Diensten.“ Das heißt aber: mehr entgelten als man empfangen hat.
b) Ich antworte, die Erkenntlichkeit im dankbaren berücksichtige den guten Willen des Wohlthäters vorzugsweise. Darin aber ist jener Umstand besonders lobenswert, daß er umsonst, aus reiner Güte, die Wohlthat erwiesen hat. Und also wird der begünstigte dadurch verpflichtet, auch seinerseits etwas umsonst darzubieten. Wenn nun nicht der wirkliche äußerliche Umfang der verliehenen Wohlthat in der Erkenntlichkeit überschritten wird, so scheint der begünstigte nichts umsonst darzubieten; denn erstattet er das Gleiche oder weniger, so scheint er nur das Geschuldete darzubieten. Also strebt das Erkenntlichsein des dankbaren nach Möglichkeit immer danach, mehr zu erstatten als er dem wirklichen Umfange nach empfangen.
c) I. In der Wohlthat ist mehr der gute Wille, wie die wirkliche Gabe zu berücksichtigen. Beachten wir das thatsächlich Wirkliche, was ein Kind von den Eltern empfangen, nämlich das Sein und Leben, so kann das Kind nicht mit Gleichem den Eltern vergelten. (8 Ethic. ult.) Wird aber der Wille erwogen, so kann das Kind etwas Größeres vergelten, (Seneca 3. de benefic. 29.) Kann es dies nun nicht, so genügt dieser Wille. II. Die Schuld der Dankbarkeit leitet sich von der heiligen Liebe ab, welche, je mehr die Schuld abgetragen wird, desto mehr geschuldet wird, nach Rom. 13.: „Seid einander nichts schuldig, außer daß ihr euch gegenseitig liebt.“ Daß also nach dieser Seite hin die Dankbarkeit etwas Endloses ist, dies erscheint nicht unzulässig. III. In der Gerechtigkeit kommt es auf das gleiche Maß in den wirklichen Dingen an; bei der Dankbarkeit auf das gleiche Maß in dem beidereitigen Willen. (Vgl. oben.)
