Erster Artikel. Die Undankbarkeit ist immer Sünde.
a) Dies scheint nicht. Denn: I. Seneca sagt (3. de benefic. 1.): „Undankbar ist, wer für ein Wohlthat sich nicht erkenntlich zeigt.“ Das kann aber manchmal nicht anders geschehen als durch Beistand in der Sünde. Da also die Enthaltung von Sünde keine Sünde ist, so ist bisweilen Undankbarkeit keine Sünde. II. Jede Sünde beruht auf dem freien Willen: „Niemand sündigt, der das, worin er sündigt, nicht vermeiden kann,“ sagt Augustin. (3. de lib. Arbitr. 17.) Manchmal hat aber jemand nichts, um dankbar sein zu können. Auch die Vergeßlichkeit macht sich ohne unseren Willen geltend. III. Es sündigt nicht, wer nichts schulden will, nach Röm. 13.: Schuldet niemandem etwas.“ Wer aber „ungern schuldet, ist undankbar,“ nach Seneca. (4. de benefic.) Also ist Undankbarkeit nicht immer Sünde. Auf der anderen Seite heißt es 2. Tim. 3. unter anderen Sünden: Ungehorsam, undankbar, verbrecherisch etc.“
b) Ich antworte, die Schuld der Dankbarkeit sei eine Schuld der Wohlanständigkeit, die von der Tugend erfordert ist. Also widerstreitet die Undankbarkeit einer Tugend und ist somit Sünde.
c) I. Die Dankbarkeit erstreckt sich auf eine Wohlthat. Helfen aber jemandem in der Sünde heißt weder ihm wohlthun noch ihm danken; wenn nicht Täuschung zu Grunde liegt. II. Der Wille allein genügt, wenn sonst keine Möglichkeit besteht, um die Schuld der Dankbarkeit abzutragen. Die Dankbarkeit vergessen aber ist undankbar; denn das kommt von keinem natürlichen Mangel, sondern von Nachlässigkeit. „Der so etwas vergißt, hat nicht oft daran gedacht, die Schuld der Dankbarkeit abzutragen;“ heißt es bei Seneca. (3. de benefic. 10.) III. Die Schuld der Dankbarkeit kommt von der Schuld der Liebe, „die wir uns stets gegenseitig schulden,“ von der wir also nicht gelöst werden können. Wer dieser Schuld sonach ungern nachkommt, der thut dies aus Mangel an Liebe zum Wohlthäter.
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