Zweiter Artikel. Die Geduld ist nicht die hauptsächlichste Tugend.
a) Das Gegenteil wird bewiesen. Denn: I. Jakob 1. heißt es: „Die Geduld ist vom vollkommenen Werke begleitet.“ II. Die Tugenden dienen dem Besten der Seele. Von der Geduld aber sagt der Heiland (Luk. 21.): „In euerer Geduld werdet ihr euere Seelen besitzen.“ Also ist sie die größte der Tugenden. III. „Die Geduld ist die Wurzel und die Hüterin aller Tugenden;“ sagt Gregor. (35. in Evgl.) Auf der anderen Seite zählt weder Augustin (de morib. Eccl. 15.) noch Gregor (22. moral. 1.) die Geduld unter den Haupttugenden auf.
b) Ich antworte, die Tugenden dienen gemäß der Vernunft dem Guten. Je mehr also eine Tugend den Menschen zum Guten hinlenkt, desto bedeutender und hauptsächlicher wird sie sein. Unmittelbarer aber lenken zum Guten hin jene Tugenden, die das Gute sozusagen herstellen; als jene, welche nur das den Tugenden Schädliche abhalten. Wie aber unter den erstgenannten Tugenden jene die ersten sind, die auf ein größeres Gut sich richten (wie die theologischen Tugenden größer sind als die Klugheit und Gerechtigkeit), so steht unter den zweitgenannten Tugenden voran jene, welche den größeren Nachteil von der Tugend abwendet. Mehr aber ziehen vom Guten ab und benachteiligen es die Todesgefahren, gegen welche die Stärke sich erhebt, und die Ergötzlichkeiten des Tastsinnes, gegen welche die Mäßigkeit aufsteht; wie alles beliebige Übel, worauf sich die Geduld bezieht. Also die Geduld ist nicht die hauptsächlichste Tugend, sondern steht unter den theologischen und den genannten vier Kardinaltugenden.
c) I. Das vollkommene Wirken ist mit der Geduld verbunden mit Rücksicht auf das Ertragen der Übel. Denn aus den Übeln entspringt zuvörderst die Trauer und diese wird gemäßigt durch die Geduld; dann der Zorn und diesen mäßigt die Sanftmut; ferner der Haß, den die heilige Liebe fortnimmt; endlich ungerechte Benachteiligung des Nächsten diese wird entfernt von der Gerechtigkeit. Darin also ist die Geduld mit Rücksicht auf diese anderen Tugenden vollkommener, daß sie den Anfang und Ursprung dieser Übel, die Trauer, fortnimmt; hieraus folgt aber nicht, daß sie schlechthin vollkommener ist. II. Der Besitz will sagen ruhige Herrschaft. Durch die Geduld also besitzt der Mensch seine Seele, insoweit sie den unruhigen Eindruck der Leiden und Trübsale entfernt, welche die Seele verwirren. III. „Wurzel und Hüterin aller Tugenden“ wird die Geduld genannt; nicht als ob sie dieselben unmittelbar verursachte oder behütete, sondern weil sie die Hindernisse entfernt.
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