Vierter Artikel. Das Anfangen, Fortschreiten, Vollendetsein macht den Unterschied aus für die verschiedenen Stände.
a) Dagegen spricht Folgendes: I. Für verschiedene „Arten“ sind auch die Gattungsunterschiede innerhalb einer „Art“ verschieden. Nach dem Anfang, Fortschreiten, Vollendetsein aber wurden bereits die Stufen der heiligen Liebe unterschieden. (Kap. 24, Art. 9.) Also muß man danach nicht den Unterschied in den Ständen bemessen. II. „Stand“ will besagen Freiheit oder Dienstbarkeit (vgl. oben). Damit hat aber der eben erwähnte Unterschied nichts zu thun. III. Der besagte Unterschied geht nur auf das Mehr und Minder; ist also nicht ein innerer Wesensunterschied, wie dies für die Stände erfordert ist. Derselbe wäre mehr geeignet, für die Unterscheidung der Rangstufen maßgebend zu sein. Auf der anderen Seite sagt Gregor (24. moral. 7.): „Drei Arten giebt es für die Bekehrten: der Anfang, die Mitte, die Vollendung;“ und ebenso hom. 15. in Ezech.
b) Ich antworte, „der Stand“ gehe auf Freiheit und Knechtschaft. Im Geistigen aber giebt es eine Knechtschaft der Sünde und eine Knechtschaft oder einen Dienst der Gerechtigkeit; und dementsprechend eine Freiheit von der Sünde und ein Freisein von der Gerechtigkeit. Dies drückt Paulus (Röm. 6.) aus mit den Worten: „Da ihr Knechte der Sünde wäret, seid ihr frei gewesen von der Gerechtigkeit; nun seid ihr frei von der Sünde und Knechte Gottes geworden.“ Es ist aber jemand der Sünde oder der Gerechtigkeit dienstbar, wenn er durch sündhafte Gewohnheit zur Sünde hinneigt oder durch eine gute, tugendhafte Gewohnheit zum Guten. Und so ist jemand von der Sünde befreit, wenn er von der Hinneigung zur Sünde nicht überwunden wird; und er ist von der Gerechtigkeit frei, wenn jemand durch die Liebe zur Gerechtigkeit sich nicht vom Übel abhalten läßt. Weil nun der Mensch kraft seiner natürlichen Vernunft zur Gerechtigkeit hinneigt; die Sünde aber gegen die natürliche Vernunft ist, so steht die Freiheit von der Sünde als die wahre Freiheit da und ist verbunden mit dem Dienstbarsein gegenüber der Gerechtigkeit. Und ebenso ist die wahre Knechtschaft die der Sünde und mit dieser ist verbunden die Freiheit von der Gerechtigkeit, insofern dadurch gehindert wird das, was dem Menschen zukömmlich ist. Daß nun der Mensch der Gerechtigkeit oder der Sünde dienstbar wird, dies geschieht durch menschliches Bemühen, wie der Apostel (l. c.) sagt: „Wem ihr euch erbietet zu gehorchen, dessen Knechte seid ihr; sei es der Sünde für den Tod oder der Gerechtigkeit für das Leben.“ In jedem menschlichen Bemühen aber ist ein Anfangen, ein Fortschreiten, eine Vollendung. Nach dieser Richtschnur wird also gut die geistige Knechtschaft unter der Sünde oder unter der Gerechtigkeit unterschieden.
c) I. Die Befreiung von der Sünde vollzieht sich nach Röm. 6. durch die Liebe, „welche durch den heiligen Geist in unseren Herzen ausgegossen ist;“ so daß 2. Kor. 3. gesagt wird: „Wo der Geist des Herrn, da ist die Freiheit.“ Der gleiche Unterschied also gilt für die heilige Liebe und für die Stände. II. Dieser Unterschied gilt von der geistigen Knechtschaft oder Freiheit und dem entsprechenden menschlichen Bemühen. III. Was die einzelne Person anbetrifft, so kann der verschiedene „Stand“ zusammenfallen mit der Verschiedenheit in der Rangstufe. Denn auch sonst sind Knechte nicht nur einem anderen Stande angehörig wie die freien, sondern auch einer anderen Rangstufe.
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