Sechster Artikel. Die Furcht ist nicht an und für sich Ursache des Unfreiwilligen.
a) Dementgegen scheint die Furcht ohne weiteres die Ursache des Unfreiwilligen zu sein. Denn: I. Was der Zwang ist gegenüber dem gegenwärtigen Wollen, das ist die Furcht gegenüber dem zukünftigen; nämlich gegenüber dem zukünftigen Übel, welches dem Willen zuwider ist. Der Zwang aber ist die Ursache des Unfreiwilligen; also auch die Furcht und zwar von vornherein und ohne weiteres. II. Was an und für sich eine gewisse Beschaffenheit hat, das bleibt in dieser Beschaffenheit, mag hinzugefügt werden was da wolle; wie z. B. was von sich aus unabhängig von allem anderen warm ist, verbunden werden mag, mit wem es wolle, es bleibt warm, solange es überhaupt ist. Was aber infolge und auf Grund der Furcht geschieht, das ist insoweit von sich aus unfreiwillig; mag also was auch immer hinzutreten, es wird nie und nach keiner Seite hin freiwillig. III. Was nur bedingungsweise eine gewisse Beschaffenheit hat, das besitzt selbige nicht anders wie unter gewissen Voraussetzungen; nicht von vornherein. Was aber bedingungslos eine solche Beschaffenheit hat, das besitzt selbige von sich aus, ohne weitere Voraussetzung. Derselbe Fall tritt ein beim Notwendigen. Was nur unter Bedingung notwendig ist, das ist nur beziehungsweise notwendig; das bedingungslos Notwendige jedoch ist von sich allein aus notwendig. Was aber infolge der Furcht gethan wird, das ist von sich aus ohne weiteres unfreiwillig und wird erst unter Bedingung freiwillig; damit nämlich das gefürchtete Übel vermieden werde, nur unter dieser Bedingung wird es gethan. Was also infolge der Furcht geschieht, das ist bedingungslos unfreiwillig. Auf der anderen Seite sagt Gregor von Nyssa (de nat. hom. cap. 30.): „Was infolge der Furcht geschieht, ist vielmehr freiwillig als unfreiwillig.“
b) Ich antworte; nach Gregor von Nyssa und Aristoteles (3 Ethic. 1.) ist in dem, was unter dem Einflüsse der Furcht geschieht, Freiwilliges mit Unfreiwilligem gemischt. Denn solches ist an sich betrachtet unfreiwilligund wird erst in dem Falle freiwillig, daß man jenes Übel vermeiden will, welches gefürchtet wird. Wer jedoch recht zusieht, findet, daß dergleichen Handlungen mehr vom Freiwilligen haben wie vom Unfreiwilligen. Denn sie sind an und für sich und von vornherein freiwillig; nur unter Voraussetzung und bedingungsweise unfreiwillig. Jegliches nämlich wird an und für sich und bedingungslos danach bezeichnet, gemäß dem es thatsächliches Sein hat; gemäß dem es aber in der Auffassung allein sich vorfindet, danach ist es nicht an und für sich, aus sich allein heraus zu bezeichnen, sondern nur mit Rücksicht auf die Auffassung. Was nun unter dem Einflusse der Furcht geschieht, das ist insoweit im thatsächlichen Sein als es wirklich geschieht. Denn da jegliche Handlung oder Wirksamkeit nur als eine einzelne denkbar ist, nicht wie das Wesen oder die Natur eines Dinges als vielen ohne Ende mitteilbar, das Einzelne aber als solches in ganz bestimmten Zeit- und Ortsverhältnissen sich findet: — so ist das, was geschieht, demgemäß im thatsächlichen Sein, als es in bestimmten Zeit-, Orts- und ähnlichen Verhältnissen sich vollzieht. So aber genommen ist das, was man unter dem Einflusse der Furcht thut, jedenfalls freiwillig; insofern es nämlich unter vollbestimmten Verhältnissen dasteht und somit in dem besonderen Falle als Hindernis betrachtet wird für den Eintritt eines größeren Übels, vor dem man Furcht hat. So wird die Schiffsladung z. B. bei großem Sturm ins Meer geworfen, weil man für das Leben, also ein größeres Übel, fürchtet. Dies ist demgemäß offenbar an und für sich und ohne weiteres freiwillig und es enthält voll und ganz den Grund des Freiwilligen in sich, weil das Princip, von dem das Fortwerfen der Ladung ausgeht, von innen herauskommt und nicht ein dem betreffenden Menschen äußerliches ist. Sobald aber das, was unter dem Einflüsse der Furcht geschieht, als außerhalb dieses besonderen Falles befindlich betrachtet wird, soweit es nämlich dem Willen zuwider ist; — so geschieht dies nur gemäß der Auffassung der Veruunft; und somit stehen wir hier vor etwas Unfreiwilligem unter gewisser Voraussetzung, nämlich nur mit Rücksicht auf die Betrachtung der Vernunft, die von dem wirklich existierenden Falle absieht; — nicht also vor etwas Unfreiwilligem simpliciter, sondern vor etwas Unfreiwilligem secundum quid.
c) I. Zu jenem Unterschiede von Gegenwärtigem und Zukünftigem bei der Furcht und dem Zwange tritt noch jener andere, das bei dem Zwange der Wille durchaus nicht zustimmt, sondern das Erzwungene vielmehr gegen die Willensbewegung ist. Bei der Furcht aber stimmt der Wille zu; wenn er auch nur zustimmt um etwas Anderes willen, nicht wegen dessen präcis, was er thut. Zur Natur des Freiwilligen jedoch reicht es hin, daß ich etwas als Mittel zum Zwecke will; es ist nicht notwendig, daß ich Alles, was ich will, als Zweck will. Beim Zwange also thut der innere Wille nichts; bei der Furcht aber ist er thätig. Deshalb definiert Gregor von Nyssa das Gewaltsame, das violentum nicht bloß als etwas, „dessen Princip außen ist“ (cujus principium sit extra), sondern er setzt noch hinzu, „daß das Leidende nichts dazu beiträgt“ (nil conferente vim passo); denn zu dem, was infolge der Furcht geschieht, trägt der Wille etwas bei. II. Das im Einwurfe Gesagte hat seine Geltung, wenn es sich um Dinge handelt, die für sich bestehen, wie das Warme, das Weiße. Was aber als in einer Beziehung zu anderem befindlich ausgesagt wird, das wechselt je nachdem es zu verschiedenen Dingen in Beziehung gesetzt wird.Denn was groß ist mit Beziehung auf dies, das ist klein mit Beziehung auf jenes. Freiwillig aber wird etwas genannt nicht bloß an und für sich, sondern auch wegen etwas Anderem, worauf es sich bezieht. Ganz wohl also kann etwas für sich genommen nicht freiwillig sein; es wird aber wegen seiner Verbindung mit etwas Anderem freiwillig. III. Der Einwurf gilt vielmehr für das, was wir behaupten; da wir nachgewiesen, daß das infolge der Furcht Geschehene bedingungslos absolut freiwillig ist und unfreiwillig nur unter der Voraussetzung (secundum quid), daß es die Auffassung der Vernunft betrifft.
